VISION 20003/2007
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“Endlich kann ich meinen Eltern danken"

Artikel drucken Erst im Himmel erfüllen sich unsere Träume (Von Urs Keusch)

Unlängst erzählte mir ein älterer Mann, der fast die Hälfte seines Lebens in Strafanstalten zugebracht hatte, einen Traum, der, wie er sagte, sein Leben grundlegend verändert hat.

“Ich lag im Bett und dachte, wie so oft, über mein vertracktes Leben nach und gab, wie schon immer, alle Schuld dafür meinen Eltern, vor allem dem Vater, der uns Buben oft verprügelte. Auch der Mutter, die so wenig Liebe für uns übrig hatte. Und dabei hatte ich doch in jungen Jahren die hinreißendsten Träume vom Leben und wollte alles tausendmal besser machen als meine Eltern! Aber es kam anders, grausam anders. Nachdem ich stundenlang solche quälende Gedanken gewälzt hatte, schlief ich schließlich ein. In der Nacht erschien mir meine Mutter im Traum: schön und anmutig. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, daß sie einmal so schön gewesen ist. Sie lächelte mir zu und sagte: ,Kind, dein Vater und ich hatten auch einmal große und schöne Träume vom Leben, als wir uns liebten und Ja zueinander sagten. Aber es kam anders, ganz anders, du weißt es ja. Nun bin ich zu dir gekommen, um dir etwas zu sagen: Die Träume, die wir Menschen im Leben haben, die großen und schönen Träume, sie sind vom Himmel in unser Herz gekommen, aber im Laufe der Zeit ziehen sie ganz leise wieder aus, um als Samenkorn ins Erdreich des Lebens zu fallen und darin zu sterben, um dann aufzugehen im Himmel. Erst im Himmel erfüllen sich unsere Träume, erst dann, wenn wir einmal alle als Familie beisammen sind. Wir vergessen viel zu leicht, daß das Leben auf Erden nur der Anfang des wahren und ewigen Lebens ist. Denk daran, Kind, und du wirst vieles besser verstehen...' Dann lächelte die Mutter und ich sah sie nicht mehr."

Der Mann erzählte mir dann, wie er angefangen habe, seine Eltern vom Traum ihres Lebens aus zu sehen. Ihm sei da zum ersten Mal bewußt geworden, daß sie ja auch einmal jung und voller Träume waren wie er und daß sie auch nur das Beste für die Kinder wollten, aber das “Schicksal" sei ja dauernd darauf aus, unsere Träume zu vernichten, auf jeden Fall habe er es so erlebt.

“Ich konnte meine Eltern auf einmal besser verstehen", fuhr der Mann fort, “ich konnte ihnen vergeben und ich konnte sie auch bitten, mir zu verzeihen. Und glauben Sie mir: Jetzt kann ich meine Eltern lieben, ja, ich kann ihnen danken, daß sie mir das Leben geschenkt haben und ich versuche, mich an alles Gute zu erinnern, das sie mir im Leben erwiesen haben, und für alles sage ich ihnen danke. Sie glauben gar nicht, was mir da alles in den Sinn kommt, wenn ich an meine Kindheit und Jugend denke, tausend schöne Dinge! Und heute weiß ich, daß sie liebe Eltern waren, aber ich hab das früher nie so gesehen. Und das, was nicht gut war, was mir wehgetan hat - das verzeihe ich ihnen immer wieder, wenn es mir in den Sinn kommt. Und es fällt mir gar nicht schwer, wenn ich denke, wie vielen Menschen ich in meinem Leben wehgetan habe..."

Das sind berührende Erlebnisse, die man als Seelsorger machen darf. Ich spürte bei diesem Mann eine wirklich große Liebe zu seinen verstorbenen Eltern und große Dankbarkeit. Mir kam eine Stelle aus den mystischen Schriften der seligen Anna Katharina Emmerich in den Sinn, die ich einmal gelesen hatte. Sie schreibt: “Wir leben von den Gütern unserer verstorbenen Voreltern und Eltern und vergessen leicht, was wir ihnen schuldig sind und wie sehr sie nach unserem Dank begehren."

Dieses “und wie sehr sie nach unserem Dank begehren" hat mich beim erstmaligen Lesen tief betroffen gemacht, weil ich selber kaum einmal daran gedacht hatte. Die verstorbenen Eltern begehren nach unserer Dankbarkeit! Warum? Weil sie uns lieben und möchten, daß wir sie über ihren Tod hinaus lieben. Denn wir sind als Lebende und Verstorbene eine Familie, eine Familie in der Liebe Gottes. Und je mehr wir einander lieben, erfahren wir selbst das Geheimnis der Liebe Gottes immer tiefer.

Der im Rufe der Heiligkeit verstorbene P. Paul von Moll hat einmal gesagt: “Eltern im Himmel verwenden sich unaufhörlich bei Gott zugunsten ihrer Kinder auf Erden."

Und darum, ja, darum, weil es für Christen den Tod nicht gibt, weil wir in der Gemeinschaft der Heiligen leben, weil wir die große Familie Gottes sind, darum sollen Kinder sich dankbar an ihre Eltern erinnern, ihnen nicht nur alles von Herzen verzeihen, was ihnen weh getan hat, sondern ihnen gegenüber ein Leben lang ein dankbares Herz erzeigen und ihnen immer wieder für alle Liebe danken, die sie von ihnen erfahren haben. Erlauben wir uns, da wir selber arm sind an Liebe und Tugend, nie ein liebloses Wort oder einen solchen Gedanken über unsere Eltern! Darum sagt schon ein altes lateinisches Sprichwort: “De mortuis nil nisi bene." Sprich über die Toten nichts, wenn nicht Gutes!

Und darum hält uns die Kirche an, für unsere Eltern und Vorfahren zu beten, und die Kirche tut es selbst in jeder Eucharistiefeier. Das von Herzen kommende und gläubige dankbare Gebet der Kinder für ihre Eltern (und Vorfahren) ist der liebenswürdigste Ausdruck der Dankbarkeit, vor allem dann, wenn die Eltern noch nicht zur Anschauung Gottes gelangt sind: wenn sie den Weg der Reinigung noch gehen müssen, der nach dem Zeugnis vieler Heiligen oft ein sehr langer und sehr leidvoller sein kann.

Und gerade darum sollten sich Kinder mit aller Vorsicht hüten, sich in Familienstreitigkeiten hineinziehen zu lassen, wie Pater Paul von Moll einmal sagt: “Die Seelen im Fegefeuer vernehmen die Streitigkeiten ihrer Familienangehörigen auf Erden, und diese Kenntnis vermehrt ihr Leiden."

Nein, nicht Schmerz und Traurigkeit sollen wir unseren Eltern über den Tod hinaus zufügen, sondern Freude! Darum sollen wir uns nur an das Gute unserer Eltern erinnern und das, was ihnen nicht gelungen ist, sollen wir ihnen vollkommen verzeihen und der verzeihenden und neuschaffenden Barmherzigkeit Gottes empfehlen. Wir sollten auch nie vergessen, wie nah uns unsere Eltern sind, wie sehr sie uns lieben und wie sehr sie für uns beten und daß unsere Liebe und Dankbarkeit, die wir ihnen erweisen, sie glücklich macht und sie ihrem Traum, den sie einmal vom Leben hatten, näher bringt.

Ob das nicht ein Grund ist, der unendlichen Liebe Gottes in jeder Eucharistiefeier zu danken? Denn durch das Sterben Seines geliebten Sohnes und dessen herrliche Auferstehung hat Gott uns den Glauben geschenkt, daß der Tod nicht tötet, nicht einmal wirklich scheidet, sondern uns alle in Seiner Liebe noch viel inniger miteinander verbindet zu einer liebenden und versöhnten Familie, wo alle in großer Dankbarkeit einander verbunden sind. Halleluja. Preis Dir, Jesus!

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