VISION 20003/2007
« zum Inhalt Christ und Politik

In zentralen Fragen keinen Kompromiß

Artikel drucken Das “kleinere Übel" ist eine Richtlinie, die nicht auf alle Situationen anwendbar wäre

Die Präsidentschaftswahl 2007 in Frankreich stellte die Christen des Landes vor die Frage: Wen kann man heute überhaupt noch wählen? Im folgenden Gespräch einige Denkanstöße:

Kann man sich bei so wichtigen Entscheidungen, wie sie Präsidentschaftswahlen darstellen, mit dem Grundsatz des geringeren Übels begnügen?

P. Jean-Miguel Garrigues: Definitionsgemäß ist Politik die Kunst, das Bestmögliche zu tun. Als Christen wissen wir, daß unser Menschsein von der Sünde verletzt ist. Wir dürfen daher nicht das Paradies auf Erden anpeilen und müssen das kleinere Übel ertragen. Jedes staatliche Recht ist mehr oder weniger unvollkommen; es nähert sich asymptotisch dem Naturrecht - das ja selbst nicht ausformuliert und kodifiziert ist - ohne es je ganz umzusetzen. Daher hat die Kirche eine Toleranz-Lehre entwickelt: Der Staat muß darauf verzichten, alles Übel in der Gesellschaft zu verfolgen, um ein noch größeres Übel zu vermeiden... Das ist zwar paradox, aber: Die bis zum Exzeß in dieser Welt vorangetriebene Gerechtigkeit erzeugt die schlimmste Ungerechtigkeit. Darin besteht ja die totalitäre Versuchung, daß sie das Böse an der Wurzel bekämpfen will. (...) So hat die Kirche die Sklaverei geduldet, die Leibeigenschaft, die Kriege in der Feudalzeit oder die Immoralität der Könige, ohne all das allerdings gutzuheißen. Die Toleranz im Zeichen des geringeren Übels bedeutet keineswegs Permissivität.

Soll man also alles in den Programmen der Kandidaten tolerieren?

P. Garrigues: Die lehrmäßige Note von Kardinal Ratzinger über das politische Engagement von Christen antwortet darauf mit nein. Sie hält fest: Ein christlich geformtes Gewissen dürfe nie “mit der eigenen Stimme die Umsetzung eines politischen Programms (...) unterstützen, in dem die grundlegenden Inhalte des Glaubens und der Moral durch alternative oder diesen Inhalten widersprechende Vorschläge umgestoßen werden." Es gibt grundlegende ethische Forderungen, auf die nicht verzichtet werden darf. Die Note führt als Beispiel neben der Abtreibung und der Euthanasie die Gefährdung der auf der Einehe von Personen unterschiedlichen Geschlechts aufbauenden Familie an.

Dann gibt es aber letztendlich kaum noch geeignete Kandidaten...

P. Garrigues: Hier muß man auf die Frage des geringeren Übels zurückkommen. Ist ein Gesetz, wie jenes, das die Abtreibung zuläßt, schon in Kraft, so gestattet die Note im Gefolge von “Evangelium vitae" solche Gesetzesinitiativen zu unterstützen, die, obwohl moralisch unvollkommen, doch geeignet erscheinen, in gewisser Hinsicht den moralischen Schaden einzudämmen. Französische Katholiken können also für ein Programm stimmen, wenn es die Angriffe auf die menschliche Person, die von der derzeitigen Gesetzgebung ausgehen, nicht weiter verschlimmern, sondern im Gegenteil verringern. Voraussetzung ist allerdings, daß nicht in anderen Bereichen als dem Lebensschutz neue Angriffe auf die menschliche Person stattfinden. Die Wahlentscheidung des Katholiken darf sich nicht von einem Aspekt der Katholischen Soziallehre allein - und sei er noch so wichtig - leiten lassen. Es gibt andere unaufgebbare Prinzipien wie die religiöse Freiheit, die freie Kindererziehung, das wirtschaftliche Wohl im Dienst der Person und des Gemeinwohls.

(...) Man kann für ein moralisch unvollkommenes Programm stimmen - aber nur unter der Bedingung, daß dieses irgendwie die ethische Situation der vorherrschenden Gesetzgebung verbessert. Wo das nicht zutrifft, erlaubt die Note nicht, für ein Programm nur deswegen zu stimmen, weil es weniger schädlich erscheint als ein anderes oder weil es keine weiteren Verschlechterungen in Aussicht stellt. Insgesamt gestattet die Note nur dann das kleinere Übel zu wählen, wenn es in seiner Dynamik zu einer Verbesserung der Situation im Vergleich zum Istzustand beiträgt. Wo dies nicht der Fall ist, legt sie den Katholiken eine Wahlverweigerung nahe. (...)

Kommt ein solcher geistiger Widerstand nicht praktisch einer politischen Abstinenz gleich?

P. Garrigues: Wer würde behaupten, daß sich Gandhi politisch zurückzog, als er die Inder zum passiven Widerstand aufrief? Das Lehramt sieht das ebenso. Wenn eine Gesellschaft die ethischen Grundsätze, auf denen sie gegründet ist, verläßt, besteht das politische Engagement vorrangig darin, sich zu verweigern, es abzulehnen, persönlich mit dem moralischen Übel zu kooperieren. Weder Kompromiß, noch Rückzug - beides sind Haltungen, die der Note Kardinal Ratzingers zufolge zu vermeiden sind: “Wenn die politische Tätigkeit mit moralischen Prinzipien konfrontiert wird, die keine Abweichungen, Ausnahmen oder Kompromisse irgendwelcher Art zulassen, dann ist der Einsatz der Katholiken deutlicher sichtbar und mit größerer Verantwortung verbunden." Unser Wille, dem Gemeinwohl zu dienen, schließt in gewissen Fällen den passiven Widerstand nicht aus. Wir dürfen das Knie nicht vor Baal beugen.

Ist der Präsidentschaftswahlkampf ein Kampf zwischen Gut und Böse?

P. Garrigues: Jedenfalls darf er nicht aus der ethischen Gewissensentscheidung ausgenommen werden. Über die kommenden Wahlentscheidungen hinaus stehen die Katholiken vor der Aufgabe, sich im Bereich der Politik zu engagieren. Das gilt insbesondere für den Bereich der Bioethik. Man bedenke: In England geht man daran, ohne daß die Politik etwas dagegen unternimmt, Chimären, also genetische Monster, die tierisches und menschliches Erbgut vereinen, zu basteln.

Aber wir leben doch nicht mehr in den Zeiten eines Thomas Morus (Märtyrer unter König Heinrich VIII. in England, Anm.)...

P. Garrigues: Das ist nicht so sicher, auch wenn sich die historischen Umstände anders darstellen. Hätte Heinrich VIII. sich damit begnügt, die englische Kirche zu unterdrücken, dann hätte Thomas Morus wohl nicht reagiert. Ähnliches gab es ja überall sonst auch. Die Könige haben sich ja oft kirchliches Eigentum angeeignet... Thomas Morus wurde jedoch zum Martyrium gedrängt, als der König seinen Mißbrauch durch ein unerträgliches Prinzip rechtfertigen wollte: als er sich zum Herrn der englischen Kirche erklärte. Da gab es für Thomas keine Kompromisse. Da handelte es sich um einen unantastbaren Grundsatz, wertvoller als sein eigenes Leben. In ähnlicher Weise warnt uns heute das Lehramt: Angesichts des ethischen Relativismus, der uns als Prinzip der Demokratie dargestellt wird, dürfen die Katholiken in Sachen Ethik nicht abdanken, indem sie sich darauf berufen, das kleinere Übel zu wählen.

Wie auch in anderen dramatischen Perioden der Zeitgeschichte erhebt die Kirche ihre Stimme im Namen des Glaubens. Dieser bezeugt den Vorrang des Geistigen und verlangt das Zeugnis der Christen. Sie ruft den Katholiken in Erinnerung, im Einklang mit ihren Überzeugungen zu handeln. Sind die moralischen Fundamente unserer Gesellschaft bedroht, dann ist der Christ aufgerufen, dieser Entwicklung sein non possumus entgegenzustellen.

Warum äußert sich das Lehramt in einem so offenen Bereich wie dem der politischen Entscheidung?

P. Garrigues: Weil es überzeugt ist, daß der “ethische Pluralismus deutliche Zeichen an sich trägt, die den Verfall und die Auflösung der Vernunft und der Prinzipien des natürlichen Sittengesetzes anzeigen." Er bedrohe “die geistigen und kulturellen Grundlagen der Zivilisation selbst." Das Lehramt erinnert uns daran, daß das demokratische Leben (...) wahre und solide Fundamente (braucht), das heißt ethische Prinzipien, die auf Grund ihrer Natur und ihrer Rolle als Grundlage des sozialen Lebens nicht ,verhandelbar' sind."

Warum schießt man sich da so auf den ethischen Pluralismus ein?

P. Garrigues: Die Note setzt sich ausführlich mit den “großen Gefahren" auseinander, mit dem, was sie den “Libertinismus" unserer Gesellschaft nennt, “in der man die Wahrheit nicht verkündet und nicht danach strebt, sie zu erlangen." Der vorherrschende Pluralismus tut so, “als ob alle möglichen Auffassungen über das Leben den gleichen Wert hätten." Das geht so weit, daß behauptet wird, “der ethische Pluralismus sei die Bedingung für die Demokratie."

Weil sie - vor allem durch den Einfluß der Medien - dieser kulturellen Beeinflussung unterliegt, macht die öffentliche Meinung Druck auf die Gesetzgeber, die dann “Gesetze beschließen, die von den Prinzipien der natürlichen Ethik absehen und kulturellen oder moralischen Einstellungen nachgeben, die mehr oder weniger in Mode sind." Das Lehramt erinnert uns daran, daß “in dieser schwierigen Lage (...) die Katholiken das Recht und die Pflicht (haben) einzugreifen", denn diese Lage könne “nicht mit den Fragestellungen vergangener Jahrhunderte verglichen werden." (...)Was die grundlegenden ethischen Prinzipien anbelangt, ist die Note unzweideutig: “Der Einsatz der Katholiken kann (...) keinem Kompromiß nachgeben, denn sonst würden das Zeugnis des christlichen Glaubens in der Welt und die innere Einheit und Kohärenz der Gläubigen selbst aufgegeben."

P. Garrigues ist Dominikaner, Theologe und Mitglied der Päpstlichen Theologischen Akademie. Die Note, auf die er sich bezieht, siehe Kasten. Der Beitrag ist ein Auszug aus einem Interview in “Famille Chrétienne" v. 2.3.07.

© 1999-2024 Vision2000 | Sitz: Hohe Wand-Straße 28/6, 2344 Maria Enzersdorf, Österreich | Mail: vision2000@aon.at | Tel: +43 (0) 1 586 94 11