VISION 20001/2013
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Reif werden für den Himmel

Artikel drucken Über die Abkehr von einem „homöopathisch verdünnten Christentum“ (Von Urs Keusch)

Ich erinnere mich gut an jene geistig wachsame Frau, die Mutter eines Firmlings, die sich zum Buddhismus bekannte und nach einem Elternabend zu mir sagte: „Glauben Sie denn wirklich, dass man so leicht in den Himmel kommt, wie ihr Katholiken lehrt: Man beichtet einfach seine Sünden und dann ist einem der Himmel sicher? Geht es wirklich so einfach?“


Wenn wir vom Leben der ersten Christen lesen, von den Mönchsvätern, in den Schriften der Kirchenväter, wenn wir das Leben der Heiligen betrachten, wird einem bewusst, wie weit wir uns heute von einem authentischen Christentum entfernt haben, das auf ständige Umkehr und Heiligung des Lebens angelegt ist. Das Christentum, wie es heute im Durchschnitt gelebt wird – ein solches hatte die Frau im Auge –, steht ganz im Trend der Zeit: Es ist ein homöopathisch verdünntes Christentum, oft hat es nur noch dessen Namen, ist nur noch Erinnerung an das Christentum.
Sören Kierkegaard hat schon vor über 150 Jahren der Volkskirche ins Stammbuch geschrieben: „Die Wahrheit ist: Wir sind nicht bloß keine Christen, nein, wir sind nicht einmal Heiden, denen die christliche Lehre unbedenklich verkündet werden könnte, sondern wir sind sogar durch einen Sinnentrug, einen ungeheuerlichen Sinnentrug (Christenheit, christlicher Staat, christliches Land, eine christliche Welt) daran verhindert, Christen zu werden.“
Harte Worte, wir zucken zusammen, wenn sie uns so ungeschminkt ins Gesicht gesagt werden. Ja, wir verbitten uns, dass jemand so mit uns redet. Aber es ist wahr, auch wenn wir dagegen protestieren. Und nur insoweit wir uns dieser Wahrheit aussetzen, kann wirkliche Bekehrung geschehen, Neuanfang und ein neues Leben in Jesus Christus.
Unser modernes Christentum hat nur noch wenig mit christlicher Umkehr (Metanoia) zu tun, ja, es steht nicht selten in offenem Gegensatz zu ihr. Die materiellen Dinge und Sicherungen nehmen uns heute fast jeden freien Raum für geistige Erlebnisse. Wie viele Stunden verbringen wir – ich meine uns Christen – täglich vor TV, Internet und bei anderen Zerstreuungen? Dabei werden wir unmerklich den Segensquellen des Gebetes und der Welt des Heiligen und Ewigen entfremdet. Wie nimmt uns doch die Sorge um unsere körperliche und seelische Gesundheit gefangen: Wir investieren ganze Vermögen in Therapien und Wellness und wagen kaum mehr, daran zu denken, dass unser Leben (vielleicht schon bald) zu Ende geht, und dass nach dem Evangelium, dem Beispiel und der Lehre unseres Herrn, nur eines wichtig ist, wirklich nur eines: dass  ich im Leben in das Gesetz der Liebe eingestimmt und mitgetan habe und in Freundschaft mit dem Herrn sterbe, in Sehnsucht nach Gott, dem lebendigen Gott. „Wann darf ich kommen und Gottes Antlitz schauen?“ (Ps 42,3)
Der reformierte Schweizer Theologe Walter Nigg, der sich über die konfessionellen Grenzen hinaus als Hagiograph einen Namen gemacht hat, hat vor 20 Jahren ein Büchlein geschrieben mit dem Titel: Die Hoffnung der Heiligen. Wie sie starben und uns sterben lehren. Darin wollte er das Gespräch aufnehmen über das heute vielleicht am meisten verdrängte und tabuisierte Thema: Das Gespräch über Sterben und Tod.
In diesem empfehlenswerten Büchlein, das leider nur noch antiquarisch zu erstehen ist, macht er aufgrund seiner eigenen seel­sorgerischen Erfahrungen als Pfarrer diese bemerkenswerte Feststellung: „Persönlich habe ich wenige Menschen kennengelernt, die man als reif für den Himmel bezeichnen könnte – sie kurzerhand der Hölle zu überlassen, verrät eine Gefühlsrohheit und widerstreitet dem christlichen Herzen. Deswegen scheint mir die Vorstellung des Purgatoriums viel für sich zu haben...“
Das sind die Worte und Reflexionen eines reformierten Pfarrers, dem es eigentlich sein Bekenntnis verbietet, an die Läuterungsmöglichkeit nach dem Tod zu glauben, denn für den Protestantismus gibt es nach dem Tod nur Himmel und Hölle. Aber drängen sich solche Gedanken nicht jedem tiefer blickenden Menschen auf?
Wer ist wirklich reif für den Himmel, auch wenn er schon hochbetagt ist? Wer erlebt nicht täglich am eigenen Leibe, wie ungereinigt sein Haus ist, wie an den Wänden seiner Erinnerungen immer noch schlechte Bilder hängen und fast täglich durch Film und Fernsehen neue dazukommen, wie Nörgelei, Empfindlichkeit, die Anhänglichkeit an das Geld, Regungen der Eifersucht und der Mutlosigkeit seine Seele verdüstern, wie er unbedacht dunkle Gefühle in die Welt der Menschen entlässt?
Noch als alte Menschen unterhalten wir in uns negative Erinnerungen aus der Kindheit, lassen uns mit Zweifelsgeistern in innere Dispute ein, die uns der Hoffnung berauben, murren über kleine und größere Beschwerden, die ein guter Himmel uns schenkt, dass wir sie in Gold verwandeln, misstrauen der Liebe Gottes, urteilen und richten in unserem Herzen über Menschen und Welt und halten Ausschau nach göttlichen Strafgerichten für die Bösen, wo doch eine innere Stimme uns anfleht, für sie um Barmherzigkeit zu bitten.
Und bei dem ganzen Lärm, der uns heute umtost und den Legionen von Zerstreuungen, die uns umgarnen, vergessen wir, einen Aufblick zum Himmel zu tun, geschweige, ein aufrichtiges Gebet zu sprechen, um bei Gott zu sein. Wir tun so, als wäre das kein Problem, auch nicht für den lieben Gott, als müsste Er froh sein, dass wir noch an Ihn glauben, Ihm nicht den Rücken zugekehrt haben. Und man möge uns doch mit dem ganzen mühsamen Gerede von Tod und Sterben in Ruhe lassen, solange wir leben!
Wie unterscheiden wir uns doch heute zu früheren Zeiten! Wie haben frühere christliche Generationen Tod und Sterben ernst genommen! Während heute die Verstorbenen im Allgemeinen in den Genuss kommen, schon bei den Trauerfeierlichkeiten heiliggesprochen zu werden und auf österlichen Melodien und Gesängen in den Himmel zu fahren, haben die Menschen früherer Generationen für die Verstorbenen im Gebet gerungen, Gedächtnisse für sie gehalten, sind für sie im Gebet eingestanden: Gott möge ihnen barmherzig sein, dass sie bald geläutert ins Reich der Seligen eingehen. Denn man wusste um die menschliche Armseligkeit und Sündhaftigkeit, man war noch durchdrungen von der biblischen Wahrheit, dass Gottesfurcht der Anfang aller Weisheit ist, auch wenn es mitunter zu ängstlichen Übertreibungen kam.
In der gesamten Tradition der Kirche finden wir nirgends einen so leichtsinnigen Umgang mit dem Tod wie heute. Die gesamten Erfahrungen der Heiligen und Mystiker und ganzer Generationen von Christen mit dem Tod, dem Sterben, mit Verstorbenen, die keine Ruhe finden konnten in der andern Welt, sprechen eine erschütternd ernste Sprache und sind ein einziger Protest gegen das Komödiantentum, das heute vielerorts im Umgang mit dem Tod betrieben wird.
Immer wurde der Tod des Christen als die wichtigste, als die entscheidende Stunde im Leben gesehen. Immer haben die Menschen geahnt, im Glauben erspürt, im Gebet erfahren, dass die Begegnung mit der lebendigen und unverhüllten Wirklichkeit des heiligen und richtenden Gottes etwas unbeschreiblich Ernstes ist, selbst solche Menschen, die sich in diesem Leben durch großes Vertrauen und wahrhaft christliche Liebe im Herzen Jesu eine Arche gesichert hatten.
Wir finden in der ganzen Reihe der christlichen Heiligen und Mystiker keinen einzigen, der im Leben das Sterben und die Begegnung mit dem Herrn leicht genommen hätte. Hier nur ein Beispiel: Der Hl. Augustinus, dieser große, liebende Christ und Bischof, der mit Engelszungen die erbarmende Liebe Got­tes verkündet hat, pflegte im Kreise seiner Freunde und in der Verkündigung immer wieder zu sagen: Keiner, ob Laie, Priester oder Bischof, wie makellos sein Wandel auch scheinen mag, dürfe den letzten Schritt im Angesicht des Todes ohne würdige und angemessene Buße tun.
Er ließ daher, als er sein Ende herannahen fühlte, die Bußpsalmen auf große Papierbögen schreiben und an der seinem Bett gegenüber liegenden Wand befestigen, um sie immer wieder lesen zu können. Jetzt, im Angesicht des Todes, wollte er sie stets vor Augen haben! „Der Gedanke an den Tod belastete ihn nicht, sondern war ihm Ansporn zur Liebe: eine Liebe, die durch die Läuterung eines opfervollen Lebens und durch die Freude, sich Gott nahe zu wissen, noch reiner wurde… Je schlimmer das Leiden wurde, desto größer war sein Bedürfnis nach Einsamkeit, um sich im Gebet auf die Begegnung mit Gott von Angesicht zu Angesicht vorzubereiten, die er so viele Jahre lang bei ‚Tag und Nacht‘ ersehnt hatte.“ (August Trapè)
Wenn schon Menschen, die von der Liebe Gottes so mächtig berührt, ergriffen und geläutert waren wie ein hl. Augustinus, die Begegnung mit Gott im Tod so ernst genommen haben, wie müssten doch wir, die wir uns oft noch so schwerfällig und schwankend durch die schmutzigen Gewässer dieser Zeit hindurch mühen, von diesem heiligen Ernst ergriffen sein!

Der Autor ist emeritierter Pfarrer in der Schweiz.

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