Europa bekennt sich zu den Menschenrechten, verleugnet aber deren christlichen Ursprung. Damit schneidet es sich von der Wurzel ab, aus der allein diese Werte auf lange Sicht gelebt werden können. Es lebt damit über seine Verhältnisse und landet damit zwangsläufig in der Unordnung, so die Analyse von Romano Guardini, einem der großen Denker des 20. Jahrhunderts. Wie treffend diese vor 65 Jahren geäußerte Diagnose ist, erleben wir jetzt hautnah an der zunehmenden Ratlosigkeit der Eliten.
Ohne das religiöse Element wird das Leben wie ein Motor, der kein Öl mehr hat. Es läuft sich heiß. Alle Augenblicke verbrennt etwas, überall sperren sich Teile, die genau ineinander greifen müssten. Mitte und Bindung gehen verloren. Das Dasein desorganisiert sich – und dann tritt jener Kurzschluss ein, der sich seit dreißig Jahren in immer steigendem Maße vollzieht: es wird Gewalt geübt. Durch sie sucht sich die Ratlosigkeit einen Ausweg. Wenn die Menschen sich nicht mehr vom Innern her gebunden fühlen, werden sie äußerlich organisiert; und damit die Organisation arbeitet, setzt der Staat seinen Zwang dahinter. Kann aber auf die Dauer aus Zwang existiert werden?
Wir haben gesehen, dass sich vom Beginn der Neuzeit an eine nicht-christliche Kultur herausarbeitet. Die Negation richtet sich lange Zeit hindurch nur auf den Offenbarungsgehalt selbst; nicht auf die ethischen, sei es individuellen, sei es sozialen Werte, die sich unter seinem Einfluss entwickelt haben. Im Gegenteil, die neuzeitliche Kultur behauptet, gerade auf diesen Werten zu ruhen.
Dieser weithin von der Geschichtsbetrachtung angenommenen Ansicht nach sind z. B. die Werte der Personalität, der individuellen Freiheit, Verantwortung und Würde, der gegenseitigen Achtung und Hilfsbereitschaft im Menschen angelegte Möglichkeiten, welche von der Neuzeit entdeckt und entwickelt worden sind. Wohl habe die Menschenbildung der christlichen Frühzeit ihr Keimen gefördert, ebenso wie die religiöse Pflege des Innenlebens und der Liebestätigkeit während des Mittelalters sie weiter entwickelt habe. Dann aber sei die personale Autonomie ins Bewusstsein getreten und zu einer vom Christentum unabhängigen, natürlichen Errungenschaft geworden. Diese Ansicht findet vielfachen Ausdruck; einen besonders repräsentativen in den Menschenrechten der französischen Revolution.
In Wahrheit sind diese Werte und Haltungen an die Offenbarung gebunden. Letztere steht nämlich zum Unmittelbar-Menschlichen in einem eigentümlichen Verhältnis. Sie kommt aus der Gnadenfreiheit Gottes, zieht aber das Menschliche in ihren Zusammenhang, und es entsteht die christliche Lebensordnung.
Dadurch werden im Menschen Kräfte frei, die an sich „natürlich“ sind, sich aber außerhalb jenes Zusammenhanges nicht entwickeln würden. Werte treten ins Bewusstsein, die an sich evident sind, aber nur unter jener Überwölbung sichtbar werden. Die Meinung, diese Werte und Haltungen gehörten einfachhin der sich entwickelnden Menschennatur an, verkennt also den wirklichen Sinnverhalt; ja sie führt – man muss es geradeheraus sagen dürfen – zu einer Unredlichkeit, die denn auch für den genauer Blickenden zum Bilde der Neuzeit gehört.
Die Personalität ist dem Menschen wesentlich; sie wird aber dem Blick erst deutlich und dem sittlichen Willen bejahbar, wenn sich durch die Offenbarung in Gotteskindschaft und Vorsehung das Verhältnis zum lebendig-personalen Gott erschließt. Geschieht das nicht, dann gibt es wohl ein Bewusstsein vom wohlgeratenen, vornehmen, schöpferischen Individuum, nicht aber von der eigentlichen Person, die eine absolute Bestimmung jedes Menschen jenseits aller psychologischen oder kulturellen Qualitäten ist. So bleibt das Wissen um die Person mit dem christlichen Glauben verbunden. Ihre Bejahung und ihre Pflege überdauern wohl eine Weile das Erlöschen dieses Glaubens, gehen aber dann allmählich verloren.
Entsprechendes gilt von den Werten, in denen sich das Personbewusstsein entfaltet. So z. B. von jener Ehrfurcht, die sich nicht auf besondere Begabung oder soziale Stellung, sondern auf die Tatsache der Person als solche richtet – auf ihre qualitative Einzigkeit, Unvertretbarkeit und Unverdrängbarkeit in jedem Menschen, er sei im übrigen geartet und gemessen wie immer...
Oder von jener Freiheit, welche nicht die Möglichkeit bedeutet, sich zu entwickeln und auszuleben, und daher dem seinsmäßig oder sozial Bevorzugten vorbehalten ist, sondern die Fähigkeit jedes Menschen, sich zu entscheiden, und darin seine Tat und in der Tat sich selbst zu besitzen ... Oder von jener Liebe zum anderen Menschen, welche nicht Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, soziale Verpflichtung oder was immer, sondern die Fähigkeit bedeutet, im Andern das „Du“ zu bejahen und darin „Ich“ zu sein. Das alles bleibt nur so lange wach, als das Wissen um die Person lebendig bleibt. Sobald das aber mit dem Glauben an die christliche Gottesbeziehung verblasst, verschwinden auch jene Werte und Haltungen.
Dass dieses Verhältnis nicht anerkannt wurde; dass die Neuzeit Personalität und personale Wertwelt für sich in Anspruch genommen, aber deren Garanten, die christliche Offenbarung, weggetan hat, hat jene innere Unredlichkeit erzeugt, von welcher die Rede war. Der Zusammenhang hat sich denn auch allmählich enthüllt.
Die deutsche Klassik wird von Werten und Haltungen getragen, welche sich bereits in der Schwebe befinden. Ihre edle Menschlichkeit ist schön, aber ohne die letzte Wahrheitswurzel, denn sie lehnt die Offenbarung ab, von deren Wirkung sie überall zehrt. So beginnt denn auch ihre menschliche Haltung schon in der nächsten Generation zu verblassen. Und nicht, weil diese weniger hoch stünde, sondern weil dem durchbrechenden Positivismus gegenüber die von ihren Wurzeln gelöste Personalkultur sich als ohnmächtig erweist.
Der Vorgang hat sich weiter fortgesetzt; und wenn dann plötzlich das aller neuzeitlichen Kulturtradition so schroff widersprechende Wertbild der letzten beiden Jahrzehnte hervorbrach, so waren Plötzlichkeit wie Widerspruch nur scheinbar: in Wahrheit hat sich da eine Leere kundgetan, die schon lange vorher bestanden hatte. Die echte Personalität mitsamt ihrer Welt von Werten und Haltungen war mit der Absage an die Offenbarung aus dem Bewusstsein verschwunden.
Die kommende Zeit wird in diesen Dingen eine furchtbare, aber heilende Klarheit schaffen. Kein Christ kann sich freuen, wenn die radikale Unchristlichkeit hervortritt. Denn die Offenbarung ist ja kein subjektives Erlebnis, sondern die Wahrheit einfachhin, kundgetan durch Den, der auch die Welt geschaffen hat; und jede Stunde der Geschichte, welche die Möglichkeit des Einflusses dieser Wahrheit ausschließt, ist im Innersten bedroht. Aber es ist gut, dass jene Unredlichkeit enthüllt werde. Dann wird sich zeigen, wie das in Wirklichkeit aussieht, wenn der Mensch sich von der Offenbarung gelöst hat und die Nutznießungen aufhören.
Auszug aus: Das Ende der Neuzeit von Romano Guardini (1885-1968), Heß-Verlag, Basel 1950, vergriffen. Dieses äußerst lesenwerte Buch wurde vom Grünewald-Verlag 2016 neu aufgelegt: Das Ende der Neuzeit – Die Macht, 186 Seiten, 25 Euro.