VISION 20005/2016
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Mir geht nichts über mich

Artikel drucken Sich in Demut üben – ein Ausweg aus der Selbstbezogenheit (Von Univ. Doz. Raphael Bonelli)

Geprägt von der Vorstelllung, alles sei machbar, hält unsere Zeit den Einzelnen an, sich selbst zu perfektionieren. Schön­heit, Fit­ness, Karriere für jedermann  werden angepriesen – vorausgesetzt man geht es nur richtig an: ein Ansatz, der Narzissten erzeugt,  selbstbezogene, eher transzendenzunfähige Menschen, so die Analyse des Psychotherapeuten.

Narzissten sind Leute, die sich selbst zu sehr lieben. Deswegen tun sie sich mit anderen Menschen schwer, denn wenn das Ich so aufgebläht ist, dann sind die anderen nur Statisten, Publikum, Sprossen auf der Karriereleiter oder lästige Nichtsnutze. Darüber wurde schon viel geschrieben.
Aber noch viel interessanter und weitgehend unbekannt ist, dass viele Narzissten den Kopf nicht nach oben wenden können. Sie bleiben immer schön tief unten im Diesseits – in der Selbstimmanenz. Irgendwie logisch: Je mehr man sich selbst in den Himmel hebt, um so weniger Platz ist dort für Höheres. Dem Narzissten ist der Weg nach oben versperrt. Er bleibt beschränkt durch die eigenen vier Wände. Ihm sind die Flügel gestutzt, er flattert wie eine Henne, obwohl er gleich dem Adler aufsteigen könnte.
Das lateinische Wort „transcendere“ heißt „übersteigen“. In der Philosophie sind die „Transzendentalen“ das Gute, das Wahre, das Schöne (und eventuell noch weitere). Diese betreffen die Allgemeinheit und übersteigen demnach die besonderen Seinsweisen. Was wahr ist, ist wahr, und wird immer wahr bleiben.
Der psychologische Terminus „Selbsttranszendenz“ wurde analog vom späten Freudschüler Victor Frankl geprägt: „Der grundlegende anthropologische Tatbestand, dass Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist – auf etwas oder auf jemanden: auf einen Sinn. Und nur in dem Maße, in dem der Mensch solcherart sich selbst transzendiert, verwirklicht er auch sich selbst: im Dienst an einer Sache. Ganz er selbst wird er, wo er sich selbst – übersieht und vergisst.“
Immanenz kommt vom lateinischen immanere, was „darin bleiben“ oder „anhaften“ bedeutet. In der Philosophie ist Immanenz der Gegenbegriff zur Transzendenz und bezeichnet das in den Dingen Verbleibende, das die Dinge nicht zu übersteigen vermag. In diesem Sinn soll die Wortneuschöpfung „Selbstimmanenz“ hier gebraucht werden: der Mensch, der nicht über sich selbst hinauskommt, der nicht zur Selbsttranszendenz findet.
Man muss sich selbst aber übersteigen, um Anteil zu haben am größeren Ganzen, dort erst findet man sich auch erst richtig. Selbstimmanenz verhindert somit die Selbstverwirklichung.
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Der gebürtige Jude Jesus von Nazareth ist laut den vorhandenen historischen Quellen nicht auf dem hohen Ross, sondern auf einem billigen Esel in Jerusalem eingeritten – in der Antike für eine Celebrity ein absolutes No-Go. Auch im Christentum ist, wie bei allen anderen Religionen, die Demut das Ideal und der Stolz nicht so hilfreich. Wie bei den Juden erschwert der Stolz die Gottesbeziehung, weil er die Selbsttranszendenz unmöglicht macht. Petrus, noch geborener Jude wie sein Meister, schreibt ein Kochrezept für das Gebet: „Gott widersteht den Hochmütigen, dem Demütigen gibt er Seine Gnade.“ Wie im Judentum geht es auch im Christentum um Got­tesnähe und Gottesbeziehung.
Der Mann aus Nazareth zeigt das Ideal: „Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen.“ Das ist bemerkenswert: Demut kann man also lernen. Die ist nicht genetisch fixiert. Ihr Gegenteil, also Hochmut, Stolz oder eben Narzissmus, ist für die christliche Lehre eine Haltung infolge einer Entscheidung, die der Mensch widerrufen kann.
Genauso ist das überlieferte Schriftwort „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst“ ein Appell, der eine freie Entscheidung voraussetzt. Ebenso ist „wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt“ weniger eine Feststellung als eine Aufforderung.
Noch einen interessanten Punkt gibt es im Christentum: die natürliche Neigung zum Stolz, zur ungeordneten Selbstliebe. Das nennt das Christentum Erbsünde: die Geneigtheit zur Sünde, allen voran zum Hochmut. Wer sich nicht anstrengt, der ist eben nicht demütig, sondern kippt in den Stolz – bei Sigmund Freud der primäre und später sekundäre Narzissmus.
Demut ist nicht selbstverständlich. Aber man kann sie sich im Sinne eines Lernprozesses und durch asketische Bemühungen aneignen. Narzissmus, Eigenliebe, Selbstverliebtheit und überzogenes Selbstwertgefühl sind nicht schicksalhaft und unveränderlich in den Menschen eingeschrieben, sondern durchaus veränderbar. Aurelius Augustinus von Thagaste schrieb um das Jahr 400: „Der Ursprung aller Sünde ist der Stolz“, weil der Stolze tue, was er wolle, und sich nicht dem Willen Gottes beuge.
Er teilt die Menschheit in zwei Gruppen: die eine ist durch die Liebe Gottes motiviert bis zur Geringschätzung des eigenen Ichs, die andere durch die Selbstliebe bis zur Geringschätzung Gottes. Aus Hochmut verweigert sich der Mensch seinem Schöpfer – und nimmt in äußerster Konsequenz sogar den Selbstausschluss aus der ewigen seligen Gottesschau in Kauf.
Zusammengefasst ist das Christentum hoffnungsvoll: Wer ernsthaft will, kann aus seinem Narzissmus aussteigen. Das ist zwar nicht ganz einfach, aber machbar.
Auszüge aus dem neuen Buch von Raphael Bonelli Männlicher Narzissmus – Das Drama der Liebe, die um sich selber kreist, erschienen im Kösel-Verlag.


Neues Bonelli-Buch

Narzissmus, Geltungssucht, Selbstbezogenen: ein besonders beim männlichen Geschlecht ausgeprägte Fehlhaltung in unserer Zeit ist Thema des neuen Buches von Raphael Bonelli. Zwar selbstbewusst und beeindruckend sind Narzissten vor allem nicht liebesfähig, behandeln ihre Mitmenschen schlecht. Gibt es Auswege? Ja, sagt der Autor, bei geeigneter Therapie, die ebenso Thema des Buches ist wie eine profunde Analyse dieser Fehlhaltung.

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