VISION 20005/2016
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Der selige Clemens August von Galen

Artikel drucken Botschaft an uns (Von Dom Antoine Marie osb)

Juli 1941. Das Dritte Reich steht auf dem Höhepunkt seiner Macht. Hitler hat einen Angriff auf Sowjetruss­land gestartet. Nichts scheint die Wehrmacht aufhalten zu können. Da beschließt ein deutscher Bischof, gegen die vor kurzem beschlossene massive Euthanasie geistig Kranker zu protestieren. 60.000 Personen, die stillschweigend eliminiert werden sollen, sind bereits in Vernichtungslagern. Bischof Clemens August von Galen macht sich keine Illusionen: Wenn er spricht, riskiert er, als „Volksfeind“ verhaftet und hingerichtet zu werden. Dennoch erhebt er seine Stimme auf der Kanzel seines Domes. Dieser mutige Hirte, den man später den „Löwen von Münster“ nannte, wurde am 9. Oktober 2005 seliggesprochen.
Clemens August wurde am 16. März 1878 auf Burg Dinklage in Westfalen geboren. Er war das elfte der 13 Kinder von Graf Ferdinand Heribert von Galen und seiner Frau Elisabeth. Das Leben auf Dinklage war hart; doch die strenge Erziehung war von einem innigen Glauben beseelt. Die Kinder gingen täglich zur Messe und wurden von der Gräfin persönlich im Katechismus unterwiesen; von ihr lernten sie, Jesus Christus nachzufolgen und das irdische Leben als Vorbereitung auf das ewige Leben zu begreifen.
Einen Großteil seiner Schulbildung erhielt Clemens August bei den Jesuiten in Feldkirch. Im Oktober 1897 nahm er an Exerzitien in der Abtei Maria Laach teil und empfing da die Berufung zum Priestertum. Nach seinem Theologiestudium in Innsbruck wurde er 1904 vom Bischof von Münster zum Priester geweiht.
1906 wurde er nach Berlin entsandt, in eine Diözese, die unter Priestermangel litt; er war dort in verschiedenen Pfarreien tätig. Während der Wirtschaftskrise von 1923, die Millionen deutscher Familien ruinierte, setzte sich Pfarrer von Galen aufopferungsvoll für seine in Schwierigkeiten geratenen Gemeindemitglieder ein und gründete einen Hilfsverein. Oft half er mit seinem persönlichen Vermögen: „Es wäre wirklich unnütz, wenn nach meinem Tode noch Besitztümer übrigblieben,“ sagte er. Sein höchstes Ziel in allem war jedoch das Heil der Seelen. Der Gedanke an das ewige Leben, das ihn ständig beschäftigte, wurde zum unerschütterlichen Rückhalt in den Kämpfen, die er führen musste. Anfang 1929 wurde Clemens August nach Münster zurückberufen, wo er die Leitung der Pfarrei St. Lamberti übernahm. Da er eine gewisse allgemeine Laschheit konstatierte, veröffentlichte er 1932 eine Broschüre: Die Pest des Laizismus und ihre Erscheinungsformen. Mit Nachdruck ermahnte er darin die Laien, gegen die Säkularisierung und die Entchristlichung der Gesellschaft anzukämpfen.
Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler Reichskanzler. Clemens August setzte keinerlei Vertrauen in den Führer der NSDAP, dessen Lehre und gewaltsames Vorgehen die deutschen Bischöfe verurteilt hatten.
Der Bischofsstuhl von Münster war seit Januar 1933 vakant. Am 18. Juli wurde Pfarrer von Galen vom Generalkapitel zum Bischof gewählt, nachdem zwei Kandidaten vor ihm das Amt abgelehnt hatten. In seinem ersten Hirtenbrief kommentierte der neugewählte Bischof seinen Wahlspruch „Nec laudibus, nec timore“ folgendermaßen: „Nicht Menschenlob, nicht Menschenfurcht soll mich jemals hindern, die offenbarte Wahrheit weiterzugeben, zwischen Recht und Unrecht, zwischen guten und bösen Taten zu unterscheiden und jedes Mal, wenn es notwendig ist, Rat und Warnung zu erteilen.“
Der hochgewachsene, im Privatleben einfache und warmherzige Bischof wirkte geradezu majestätisch, wenn er das Pontifikal­amt zelebrierte. Er liebte Prozessionen, bei denen die Kirche durch die Entfaltung religiöser Pracht der neuheidnischen Mystik von Naziaufmärschen Paroli bot. Bereits 1934 verurteilte der Bischof Alfred Rosenbergs Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Der Chef­ideologe der NSDAP verherrlichte darin das deutsche Blut als Quelle einer überlegenen, durch Lebenskraft erschaffenen Menschheit. In seinem Osterhirtenbrief 1934 bezeichnete der Bischof von Münster diese Lehre als „Täuschung der Hölle“ und erinnerte daran, dass nur das von Jesus Christus am Kreuze vergossene kostbare Blut uns erretten könne. Diese Stellungnahme wurde von der katholischen Bevölkerung Westfalens begeistert aufgenommen. Der Bischof wiederholte ein Jahr später: „Wir können nicht umhin zu bekennen, dass es etwas Höheres gibt als Rasse, Volk und Nation: den allmächtigen und ewigen Schöpfer und Herrn der Völker und Nationen, dem alle Völker Nachfolge, Anbetung und Dienst schulden…“
Die Haltung des Münsteraner Bischofs angesichts der Judenverfolgung war eindeutig. Bereits 1934 sprach er dem Antisemitismus jede Berechtigung ab; als Bischof ließ er keine Gelegenheit aus zu unterstreichen, dass das Christentum in der Religion Israels wurzle. Nach dem Pogrom der Reichskristallnacht am 9. November 1938, als die Münsteraner Synagoge von der Polizei in Brand gesteckt worden war, bot Bischof von Galen der Frau des inhaftierten Rabbiners der Stadt seine Unterstützung an.
Am 14. März 1937 veröffentlichte Papst Pius XI. die in Deutsch abgefasste Enzyklika Mit brennender Sorge, in der er die Verherrlichung des Volkes und der Rasse verurteilte. Die Enzyklika wurde vom Münsteraner Bischof sofort veröffentlicht; unter größter Geheimhaltung ließ er davon 120.000 Exemplare drucken, 40% der von der Kirche in Deutschland vertriebenen Auflage. Auf Anordnung des Bischofs wurde der Text am folgenden Sonntag von allen Kanzeln Westfalens verlesen. Die überrumpelte Gestapo rächte sich durch Vergeltungsmaßnahmen.
Anfang 1939 hielt das Naziregime den Zeitpunkt für gekommen, sämtliche konfessionelle Schulen und jeden Religionsunterricht an Schulen zu verbieten. Am 26. Februar forderte der Bischof im vollen Dom seine Diözesane auf, durch die Unterzeichnung einer Petition gegen die „heidnische Schule“ zu protestieren. Sein Aufruf wurde von mehreren zehntausend Menschen befolgt, die durch ihre Unterschrift ihre Sicherheit, ihr Hab und Gut, ja sogar ihr Leben riskierten.
Am 1. September 1939 marschierte Deutschland in Polen ein, was die Kriegserklärung Frankreichs und Englands zur Folge hatte. Bischof von Galen machte sich die kriegslüsterne Propagandasprache nicht zueigen, sondern verordnete seinen Schäfchen Gebete für die Heimat und für den Frieden, die mit der Bitte endeten, dass „allen Völkern die Sicherheit des Friedens in Gerechtigkeit und Freiheit gewährt werden möge“.
Ab der zweiten Hälfte des Jahres 1940 gab es eine Reihe von Verfolgungsmaßnahmen gegen die Kirche: Kirchengebäude durften erst ab 10 Uhr morgens geöffnet werden, Priester wurden verhaftet und deportiert, Klöster besetzt und die Bewohner vertrieben. Bischof von Galen fühlte sich verpflichtet, seine Stimme zu erheben. Nach einem kurzen inneren Kampf hielt er am 13. Juli 1941 die erste von drei großen Predigten, die um die ganze Welt gingen. Er verurteilte die Vertreibung von Ordensleuten, protestierte gegen die Willkür- und Schreckensherrschaft und forderte Gerechtigkeit. Am folgenden Sonntag ermahnte er sein Volk, der Verfolgung standzuhalten: „Wir sind Amboss und nicht Hammer! Wie heftig der Hammer auch zuschlägt, der Amboss steht in ruhiger Festigkeit da. Was jetzt geschmiedet wird, das sind die zu Unrecht Eingekerkerten, die schuldlos Ausgewiesenen und Verbannten. Gott wird ihnen beistehen, dass sie Form und Haltung christlicher Festigkeit nicht verlieren, wenn der Hammer der Verfolgung sie bitter trifft und ihnen ungerechte Wunden schlägt.“
Bald danach folgte die Predigt vom 3. August, in der Bischof von Galen die Ermordung Geisteskranker anprangerte: „Hier handelt es sich um Menschen, unsere Brüder und Schwestern! Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen. Aber haben sie damit das Recht auf Leben verwirkt? Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den ‚unproduktiven' Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden! Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher. Irgendeine Kommission kann ihn auf die Liste der ‚Unproduktiven' setzen, die nach ihrem Urteil lebensunwert geworden sind. (…) Wehe den Menschen, wehe unserem deutschen Volk, wenn das heilige Gottesgebot: ‚Du sollst nicht töten!', das der Herr auf Sinai verkündet hat, das Gott unser Schöpfer von Anfang an in das Gewissen der Menschen geschrieben hat, nicht nur übertreten wird, sondern wenn diese Übertretung sogar geduldet und ungestraft ausgeübt wird!“
Leider ist die Euthanasie nicht mit dem Nationalsozialismus verschwunden. Sie wird heute in vielen Ländern praktiziert. Man fordert ihre Legalisierung unter Berufung auf das „Recht auf einen würdigen Tod“. Darüber hinaus werden heute viele menschliche Wesen unter dem Vorwand, sie trügen – medizinischen Untersuchungen zufolge – die Anlage zu schweren Behinderungen in sich, noch vor ihrer Geburt getötet. Das zeigt, in welchem Ausmaß unsere Gesellschaft von einer Eugenetik-Mentalität beherrscht ist, die mit der der Nazis einiges gemeinsam hat.
Die Predigt von Galens gegen die Euthanasie fand sowohl in Deutschland wie im Ausland große Verbreitung. Sie brachte dem Bischof eine Zurechtweisung von Göring ein, der ihn beschuldigte, „mitten im Krieg durch Hetzreden und Hetzschriften die Widerstandskraft des deutschen Volkes“ zu sabotieren. Hitler erwog sogar die Hinrichtung des widerspenstigen Bischofs. Doch Goebbels riet ihm, damit bis zum Endsieg zu warten, um in Westfalen keine Unruhen heraufzubeschwören. Nichtsdestoweniger wurden rund 40 Priester der Diözese Münster verhaftet; 10 von ihnen starben in der Deportation.
1942 nahm der Krieg eine Wende zum Schlechteren für Deutschland, und das Land wurde immer öfter von den Alliierten bombardiert. Der Bischof be­mühte sich nun, die Schrecken des Krieges für die Zivilbevölkerung abzumildern. Er ermahnte sie, sich die Hass- und Vergeltungsrufe der Propaganda nicht zueigen zu machen; 1943 erklärte er anlässlich einer Marienwallfahrt: „Ich habe die heilige Pflicht, das Gebot Christi zu verkünden, auf Hass und Rache zu verzichten. Ist es wirklich ein Trost für eine Mutter, deren Kind einem Bombenangriff zum Opfer fiel, wenn man ihr versichert: ‚Demnächst werden wir auch einer englischen Mutter ihr Kind töten?' Nein, solche Ankündigung von Rache und Vergeltung ist wahrlich kein Trost!“
Am 1. Februar 1944 betonte der Bischof von Münster in seinem Fastenhirtenbrief, der Grund für die aktuellen Katastrophen liege in der Ablehnung der Autorität Gottes durch den modernen Menschen. Helfen könne da nur das Hören auf Jesus Christus. Er schloss mit der Beschwörung: „Deutsches Volk, verschließ deine Ohren nicht! Höre auf die Stimme Gottes!“
Von Oktober 1943 bis Oktober 1944 wurde Münster einschließlich des Doms durch Luftangriffe zerstört. Bischof von Galen, der während eines Bombenangriffs nur knapp dem Tod entronnen war, musste aufs Land flüchten; den Einmarsch der alliierten Truppen erlebte er am 31. März 1945 in Sendenhorst. In der Folgezeit kümmerte er sich fürsorglich um die unzähligen Armen und Unglücklichen ohne Wohnung und Arbeit. Er nahm sie in Schutz vor den alliierten Besatzungstruppen, die unter dem Vorwand einer Kollektivschuld des deutschen Volkes die Bevölkerung bewusst unter Plünderungen und Hunger leiden ließen.
Am 23. Dezember 1945 wurde bekannt, dass Pius XII. 32 Prälaten, darunter auch Clemens August von Galen, die Kardinalswürde verleihen werde. Nach einer mühsamen siebentägigen Zugfahrt nahm der Bischof von Münster am 21. Februar 1946 in Rom bei einer großartigen Feier den roten Kardinalshut entgegen. Am 16. März zog Kardinal von Galen in das zerstörte Münster ein, begrüßt von einer begeisterten Menge von 50.000 Personen, die in ihm einen Hoffnungsträger für die Zukunft sahen.
In seiner Ansprache drückte er sein Bedauern darüber aus, dass er des Märtyrertods für unwürdig befunden worden war; die Tatsache, dass die Gestapo ihn nicht verhaftet hatte, führte er auf die Liebe und Treue seiner Diözesanen zurück: „Dass Ihr hinter mir standet, und dass die damaligen Machthaber wussten, dass Volk und Bischof in der Diözese Münster eine unzertrennliche Einheit waren und dass, wenn sie den Bischof schlugen, das ganze Volk sich geschlagen gefühlt hätte, das hat mich innerlich gestärkt und mir Sicherheit verliehen.“ Das war die letzte öffentliche Handlung des „Löwen von Münster“. Bereits am nächsten Tag erlitt er einen Blinddarmdurchbruch, an dem er am 22. März 1946 verstarb.

Der Autor ist Abt der Abtei Saint-Joseph-de-Clarival.
Siehe: www.clairval.com

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