VISION 20006/2005
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Il volto santo: das Tuch von Manoppello

Artikel drucken Wiederentdeckung einer kostbaren Reliquie im neuen Buch von Paul Badde (Von Martin Hajek)

Volto Santo - das heilige Gesicht: Ein neues Buch von Paul Badde geht der Geschichte dieses Abbildes des Antlitzes Christi, das in Manoppello aufbewahrt wird, nach. Der Autor des folgenden Beitrags beschäftigt sich schon seit Jahren mit diesem “nicht von Menschenhand gemalten" Bild.

Warum nur, so dachte ich mir, als ich vor über 20 Jahren erstmals in meinem Leben im Petersdom in Rom stand, warum nur ist die Statue der heiligen Veronika hier so überproportional groß dargestellt? Fünf Meter hoch in Marmor gemeißelt steht vor dem sogenannten Veronikapfeiler, einem der vier Grundpfeiler der Kuppel unter dem auch der Grundstein der Petersbasilika ruht, eine äußerst energische Frau. Sie hält ein Tuch in der Hand, auf dem das Antlitz Christi zu sehen ist.

Die Antwort auf meine Frage hätte sich eigentlich von selbst ergeben: Veronika hat uns das authentische Christusbild überliefert. Ihr haben wir die Kronreliquie des Vatikans zu verdanken. Durch über 15 Jahrhunderte war tief im Bewußtsein der Christenheit verankert: Es gibt ein “wahres" Christusbild.

Mit dem griechischen Ausdruck Acheiropoieton* (ein nicht von (Menschen-)hand Gemachtes) begegnet es uns in den verschiedensten Schriften des frühen Christentums bis ins Mittelalter. Es war die Grundlage der Ikonographie, es war der Magnet jeder Romwallfahrt. Nicht die Tugend der Päpste, so schrieb Paul Badde sehr pointiert in einem Artikel für das Pur-Magazin, zog die Leute in Scharen zur Wallfahrt nach Rom, sondern das Bedürfnis, das Antlitz Christi zu sehen. Wie die Jakobsmuschel das Symbol der Santiago-Wallfahrer war (und ist), so war ein Anstecker oder Medaillon mit dem Christusantlitz auf einem Tuch das Erkennungszeichen eines Rompilgers.

Zuletzt wurde der Schleier der Veronika - zumeist auch einfach “die Veronika" genannt - im Jubeljahr 1600/1601 in Rom ausgestellt. Seit damals bekommen die Gläubigen die Veronika nur noch einmal im Jahr für wenige Sekunden zu Gesicht, jeweils am 5. Sonntag der Fastenzeit. Aus luftiger Höhe von der Empore des Veronikapfeilers herunter wird dann der Segen mit einer “Veronika" gespendet.

Von einem Christusbild auf einem Tuch ist allerdings nicht die leiseste Spur zu erkennen. Auch der Rahmen, in welchem die Reliquie präsentiert wird, ist nicht der Originalrahmen der Veronika. Dieser befindet sich mit zerbrochener Bergkristallscheibe vorne und mit herausgerissenem Holzfutter auf der Rückseite in der vatikanischen Schatzkammer ausgestellt.

Was war geschehen? Michael Hesemann mutmaßt in seinem Buch Die stummen Zeugen von Golgotha, daß jenes Tuchbild im Laufe der Jahre so verblaßt sei, daß man kaum mehr etwas darauf erkennen konnte und daß es deshalb nicht mehr öffentlich ausgestellt wurde. Doch ist diese Vermutung schlüssig? Kann es sein, daß ein Bild 16 Jahrhunderte nichts von seiner Strahl- und Anziehungskraft einbüßt und dann plötzlich, sozusagen von einem Tag auf den anderen, verblaßt und unkenntlich wird?

Und wird dann die kostbarste Reliquie der Christenheit derart unsachgemäß in einen neuen Rahmen gebettet, daß der alte äußerst kunstvolle venezianische Rahmen einen so beträchtlichen Schaden erleidet?

Der Verdacht, daß wir es hier mit dem spektakulärsten und folgenreichsten Diebstahl des Mittelalters zu tun haben, drängt sich auf. Umsomehr wenn wir hören, daß Papst Paul V (1605-1621) alle weiteren Kopien der Veronika verboten hat und Papst Urban VIII (1623-1644) unter Strafe der Exkommunikation sogar alle verfügbaren Kopien derselben einforderte, welche dann in Rom vernichtet wurden...

Die wenigen Kopien, die dennoch angefertigt wurden, zeigen jedoch eine auffällige Veränderung. Die Augen, welche bisher auf allen Reproduktionen geöffnet waren, werden nun auf einmal geschlossen dargestellt. So z.B. auf jener Kopie für Maria Konstanze von Österreich, der Königin von Polen. Diese Kopie befindet sich übrigens in der weltlichen Schatzkammer der Wiener Hofburg zur Ansicht.

Genauso erstaunlich ist es, daß im Jahr 1635 das Titelblatt des Reliquienverzeichnisses von St. Peter das Christusantlitz mit geschlossenen Augen darstellt. In einer früheren Ausgabe, die sich sonst in nichts von dieser unterscheidet, sind die Augen jedoch geöffnet...

Rom hatte also die kostbarste seiner Reliquien verloren und wollte dies bis zum heutigen Tag offiziell nie eingestehen. Und jener Ort, an dem dieses Christusantlitz wieder auftauchen sollte, konnte nicht zugeben, daß es sich um das echte Schweißtuch der Veronika handelt. Auf den Besitz sogar einer Kopie desselben stand ja die Strafe der Exkommunikation.

Es würde hier zu weit führen, weitere Einzelheiten dieses Indizienprozesses aufzuführen.Das hat Paul Badde in sehr spannender Weise in seinem neuesten Buch (siehe Kasten) getan. Ich kürze deshalb kräftig ab: Der Schleier der Veronika tauchte nicht lange nach dem Verschwinden aus Rom in Manoppello, einem kleinen Abruzzendörfchen auf. Dort, in der Wallfahrtskirche der Kapuziner, wird er seit knapp 400 Jahren als “Volto Santo - Heiliges Gesicht" verehrt. Ein Engel hätte dieses Tuch bereits im Jahr 1506 einem Notablen des Ortes ausgehändigt, so lautet die offizielle Fassung der Legende, die im dortigen Pilgerführer nachzulesen ist. In dessen Familie wäre es dann gut 100 Jahre vererbt worden, bis es schließlich in den Besitz der Kapuziner gekommen sei. Dieser Darstellung, die 1645 sogar notariell beglaubigt wurde, verdanken wir es, daß Christus in Seinem Bild die letzten 400 Jahren sozusagen unentdeckt unter uns weilte.

Ich kürze wieder kräftig ab: Vor knapp 20 Jahren kam P. Heinrich Pfeiffer SJ, Professor für christliche Kunstgeschichte an der päpstlichen Universität Gregoriana zum ersten Mal nach Manoppello. Seit seiner ersten Begegnung mit dem Volto Santo erkannte er immer klarer: Hier muß es sich um die originale Veronika handeln. 1991 schrieb er dann sein inzwischen leider vergriffenes Buch Das echte Christusbild, in welchem er den ikonographischen Beweis erbrachte, daß der Schleier von Manoppello das Urbild aller Christusikonen sein muß.

Doch zu ungeheuerlich war diese Behauptung: In einem kleinen Abruzzendörfchen sollte jeder, der es möchte, vor dem Antlitz des Herrschers aller Welt knien und beten können, ein Privileg, das der Kaiser von Byzanz (bevor das Bild nach Rom kam) nur einmal im Jahr nach abgelegter Beichte und empfangener hl. Kommunion gehabt hatte!

Selbst die Kapuziner, die jene Wallfahrtskirche heute betreuen, konnten die Tragweite dieser Behauptung nicht ganz erfassen. Erst vor kurzem wurde das über dem Hauptaltar ausgestellte Christusantlitz mit einer Alarmanlage versehen und unter Panzerglas gestellt.

Daß es zu diesem Schritt überhaupt kam, haben wir dem deutschen Journalisten Paul Badde und der ebenfalls deutschen Trappistin Sr. Blandina Paschalis zu verdanken. Beide haben sich ausführlich mit dem Schleier von Manoppello beschäftigt. Badde ließ die Frage nach der Beschaffenheit des hauchdünnen, durchsichtigen Stoffes, auf dem sich das Bild ohne jeden Ansatz von Farbe oder Pinselstrich befindet, nicht los. Seine und Sr. Blandinas Vermutung: Es könnte sich um Muschelseide, Byssus, das teuerste und feinste Gewebe der Antike handeln.

Chiara Vigo, die einzige heute noch lebende Muschelseideweberin der Welt, die auf Initiative von Badde nach Manoppello kam, bestätigte diese Vermutung. Wenn es sich beim Schleier von Manoppello aber um Muschelseide handelt, dann kann das Christusbild darauf unmöglich ein gewöhnliches Bild sein, denn: Muschelseide ist absolut unbemalbar. Durch den hohen Sättigungsgrad an Salzwasser im Fadengewebe läßt es sich nur - auch dies nur unter großem Aufwand - färben, nie aber bemalen.

Für Skeptiker bedeutet dies also: Es ist bis heute ein in seiner Entstehung unerklärliches Bild. Für Gläubige: Wir haben hier ein Gnadenbild, das von Christus selber erwirkt wurde, wie es auf ungezählten Kreuzwegstationen dargestellt ist: Veronika reicht Jesus ein Schweißtuch. Als Dank für ihre Liebestat hinterläßt Er darauf ein Abbild seines leidenden Antlitzes. Im Gotteslob ist bei der sechsten Kreuzwegstation folgendes zu lesen: “Herr, Jesus, voll Güte hast du dein heiliges Angesicht im Schweißtuch der Veronika nachgebildet..."

Badde sieht das in seinem Buch allerdings anders. Ihm zufolge wäre Maria Magdalena die Besitzerin dieses kostbaren Byssustüchleins gewesen, das zusammen mit dem Grabtuch von Turin auf dem Leichnam Jesu gelegen sei. Baddes Theorie, die in den Grundzügen von Pfeiffer geteilt wird, hat einiges an Plausibilität. Ist doch im Johannesevangelium ausdrücklich von einem Schweißtuch die Rede, das auf dem Kopf Jesu gelegen war. Hier müßte man die Rolle des “Bluttuches von Oviedo" näher beleuchten, einer dritten Tuchreliquie, die ein Großteil der Grabtuchforscher für authentisch erachtet. Dieses seit Anfang des 8. Jahrhunderts in der Hauptstadt Asturiens aufbewahrte Tuch wurde bereits mehrfach wissenschaftlich untersucht und weist eine Fülle von Konvergenzen mit dem Grabtuch von Turin auf.

Mir scheint jedoch die traditionelle Sichtweise plausibler: Das Gesicht von Manoppello - es ist in seinen Verletzungen völlig (!) deckungsgleich mit dem Grabtuch von Turin - weist im Gegensatz zum Grabtuch geöffnete Augen auf. Dieses Detail ist insofern von größter Bedeutung, da das Angesicht auf dem Schleier von Manoppello bei den meisten Betrachtern in einer ersten Reaktion zuerst auf Unverständnis, ja Ablehnung stößt. Auch mein erster Eindruck vor zwölf Jahren war geradezu schockierend: “Nein, so kann mein Heiland nicht ausgesehen haben!"

Doch schon beim zweiten Betrachten drängten sich mir die Worte aus dem Kreuzweg in den Vordergrund: “Keine Gestalt hatte er und keine Schönheit, ein Mann der Schmerzen mit Krankheit vertraut."

Geht man bei der Betrachtung des Bildes von Manoppello von der Voraussetzung aus, daß dieses Bild auf dem Weg nach Golgotha entstanden ist, als das Lamm Gottes die Schuld der Welt auf Seinen Schultern trug, erklärt sich das zunächst Erschreckende an dem Bild: Der ausgerissene Bart, die gebrochene Nase, die geschwollene rechte Wange. Je länger man dieses Bild aber betrachtet, umso mehr ergreift einen das grenzenlose Erbarmen des göttlichen Heilandes. Wer in einem solchen Augenblick allergrößten Leidens noch solch eines gütigen, ergebenen, sanften und barmherzigen Blickes fähig ist, kann nur Gottes Sohn gewesen sein.

Es würde den Rahmen dieses Artikels allerdings gänzlich sprengen, auf alle Fragen, die sich durch die Wiederentdeckung des Bildes von Manoppello ergeben, näher einzugehen. Dies gilt vor allem für die Frage nach seiner Entstehung und seinem Verhältnis zu den anderen Tuchreliquien. Außerdem hat die wissenschaftliche Erforschung des “Volto Santo" gerade erst begonnen. Wir können uns noch auf so manche Überraschung freuen.

Noch ein Gedanke zum Schluß: Wenn der Schleier der Veronika nun durch Baddes Buch seinen Platz in der Kirche zurückerobern wird, den es 16 Jahrhunderte lang innehatte, werden viele Stimmen auftauchen, die behaupten, dies hätte für den Glauben ja eigentlich gar keine Relevanz. Darauf möchte ich gerne wie folgt antworten: Ja, du hast recht. Für Deinen Glauben an Christus mag dies nicht wirklich von Bedeutung sein. Könnte es aber sein, daß es für Deine Liebe zu Ihm von Bedeutung ist?

Martin Hajek

Herr, wenn wir fallen - sieh uns an - und heile uns durch deinen Blick. Dein Blick löscht Fehl und Sünde aus. In Tränen löst sich unsre Schuld. (aus dem Stundengebet der Kirche)

* dieser Begriff trifft natürlich auch auf das Grabtuch von Turin zu, und es ist nicht immer einfach zu unterscheiden, welche der beiden Reliquien, die ja beide auch Tuchreliquien sind, gemeint sein könnte.


Spannend zu lesen

Paul Baddes Buch ist äußerst lesenswert - berücksichtigt man die im Artikel erwähnten Korrekturen. Viele oben nur angedeutete Details sind darin genauestens recherchiert und verständlich und spannend berichtet. Badde hat viel Quellenmaterial gesichtet und er ist sich zusammen mit Prof. Pfeiffer der epochalen Bedeutung seiner Ausführungen durchaus bewußt. Das Buch ist mit vielen großteils auch farbigen Bildern ausgestattet und nimmt den Leser mit auf eine faszinierende Entdeckungsreise.

Ein kleiner Tipp von mir an alle Leser: Da der Andrang zu diesem Christusbild in Rom zur Zeit Friedrich III von Habsburg so groß war, daß es nur noch die Kanoniker von St. Peter aus der Nähe betrachten konnten, ließ sich Friedrich III (ebenso wie nach ihm König Christian von Dänemark) vom Papst zum Domherren weihen. Lesen sie dieses Buch also recht schnell und fahren sie dann sobald es ihnen möglich ist nach Manoppello, bevor der Andrang wieder zu groß wird...

Martin Hajek

Das Muschelseidetuch. Von Paul Badde, Ullstein Verlag, 303 Seiten, 22,70 Euro.

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