VISION 20005/2004
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Ausbruch aus der Anonymität

Artikel drucken Erfahrungen in der Großstadt

Ein paar Schlaglichter auf den Alltag: Die Tafel am Bahnhof gibt Auskunft über die Tarife. Daneben ein Fahrkartenautomat - Münzeinwurf - Fahrschein. Eine Stimme vom Tonband kündigt den einfahrenden Zug an. Automatisch öffnen sich die Türen, automatisch gehen sie zu. Eng gedrängt stehen wir nebeneinander. Mitten unter Fremden meidet man den Blickkontakt und schweigt...

Im Supermarkt zur Mittagszeit: Rasch eine Kleinigkeit zum Mittagessen geholt. Zwischen vollen Regalen, Plakaten mit Sonderangeboten, Preisschildern suchen die Käufer stumm, was sie brauchen. Alles vorverpackt. Die Tiefkühler surren. Ö3 aus dem Lautsprecher. Nur an der Kassa eine menschliche Stimme: “Vier Euro 20 Cents." Ich suche nach Münzen. Hinter mir Unruhe in der wartenden Schlange. Endlich habe ich den Betrag. Stumm verfolgt die Videokamera das Geschehen...

Auf dem Heimweg in der Kärtnerstraße: Großes Getümmel, zahllose Fremde, Straßensänger, und rundherum eine Menge Zuhörer. Sie klatschen. Hier geht es scheinbar menschlicher zu. Gott sei Dank. Dann aber, ein paar Schritt weiter: ein betrunkener Sandler liegt am Boden, daneben seine Krücke. Er lallt etwas Unverständliches, verdreht die Augen. Gleichgültig flaniert man an ihm vorbei. Auch ich haste zur Bahn. Keine Zeit.

Dort gehen meine Gedanken zum Sandler zurück. Ich schäme mich, vorbeigegangen zu sein. Ich denke an das Gleichnis vom Samariter. Aber - werde ich mich beim nächsten Mal anders verhalten? Wie sehr bin ich doch von der Anonymität, in der ich mich bewege, geprägt. Wie leicht übersehe ich dabei, daß es Menschen sind, die mich umgeben, Menschen mit Sorgen und Freuden und Leid, Menschen, die ich nicht als Staffage ansehen darf, in denen mich Jesus anblickt.

Ich habe es ja immer wieder erlebt, wie gut mir Gesten der Zuwendung im Alltag tun: Da war unlängst diese ältere Frau, die mir auf dem Graben entgegengekommen ist. Von ferne schon war mir ihr frohes Gesicht aufgefallen. Als wir aneinander vorbeigegangen sind, hat sie mich angelächelt. Und mit einem Schlag war auch ich an diesem grauen Morgen besser gelaunt.

Und dann fällt mir jene Begegnung damals am Ring ein: Eigentlich hatte ich ja - wie üblich - um den Straßenbahnunfall einen weiten Bogen machen wollen. Dann aber doch der Gedanke: Vielleicht kannst du helfen. Ich gebe meinem Herz einen Stoß: “Herr, hilf mir!"

Und tatsächlich: Obwohl schon Polizei da ist, Feuerwehr und Rettung verständigt und unterwegs sind, ein Kontrollor Notizen macht und viele Leute herumstehen und schauen, kümmert sich niemand um den Mann, der unter der Straßenbahn eingeklemmt liegt. Nur der Kopf schaut heraus.

Ich bücke mich. Er ist ohnmächtig, atmet ruckartig und schwer, ist offenbar erregt. Ich kniee nieder und streichle sein Gesicht. Was soll ich sonst tun? Und siehe da: Langsam beruhigt sich sein Atem. Die menschliche Zuwendung hat selbst den Bewußtlosen beruhigt. Wir brauchen einander eben.

CG

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