VISION 20003/2010
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Krisen sind der Normalfall

Artikel drucken Ein Geschichtsrückblick lehrt uns: In schwierigen Zeiten bedarf es der Treue und Gelassenheit (Von Walter Brandmüller)
Wer sich heute Sorgen um die Zukunft der Kirche macht, dem kann ein Blick auf die Kirchengeschichte helfen. Die Liste der (schweren) Krisen ist lang. Trotz aller Gefahren boten sie jeweils die Chance einer tiefgreifenden Erneuerung.
Als Kaiser Napoleon im Jahre 1801 über ein Konkordat mit dem Heiligen Stuhl verhandelte, hatte er im Kardinalstaatssekretär Consalvi einen Partner, dessen Hartnäckigkeit ihn wütend machte. So fuhr er Consalvi an: Ist es Ihnen klar, daß ich Ihre Kirche jederzeit zerstören kann? Darauf Consalvi: Ist es Ihnen klar, Sire, daß dies selbst uns Priestern in 18 Jahrhunderten nicht gelungen ist?
An diesen Wortwechsel mag man erinnern, wenn in unseren Tagen die Kirche wieder einmal von außen bedroht und im Inneren von Krisen geschüttelt wird. Wir vergessen zu oft, daß dies, solange diese Weltzeit dauert, zwar keinesfalls der Idealfall, wohl aber der Normalfall ist. So jedenfalls das Evangelium: „In der Welt werdet Ihr Bedrängnis haben …“ Sich daran zu erinnern, ändert zwar weder an den Angriffen von außen etwas, noch am Verrat von Innen. Wohl aber mag es helfen, beiden mit Gelassenheit und Zuversicht zu begegnen.
 
Zahllose Irrlehren
Noch in ihren Anfängen hat die Kirche eine Krise erlebt, die wahrhaft Existenz bedrohend, weil die Fundamente des Glaubens angreifend, zu nennen ist. Es ist die sogenannte Gnosis, manche sprechen auch von Gnostizismus, die bzw. der so gefährlich war. Unter dem Vorwand, tiefere Erkenntnis (= griechisch Gnosis) als die Masse der Gläubigen, ein religiöses Geheimwissen, zu besitzen. Eine Anzahl von solchen Gruppen, die jeweils ihre eigenen Geheimlehren hatten, unterwanderten und verwirrten die Gemeinden. Gemeinsam war ihnen – in verschiedener Form – die Ablehnung des zentralen christlichen Glaubens an die Mensch?werdung Gottes in Jesus von Nazareth.
Daß damit das Ganze des Christentums auf dem Spiel stand, ist offenkundig. Ebenso bedrohlich war die Irrlehre des Markion im 2. Jahrhundert, der das gesamte Alte Testament verwarf, und vom Neuen Testament nur zehn Paulusbriefe und eine eigene Version des Lukasevangeliums gelten ließ. 144 gründete er eine eigene gnostische „Kirche“.
Noch viel schlimmer wirkte sich die Irrlehre des Arius aus, der die Gottheit Jesu leugnete und in ihm nur ein gottähnliches Geschöpf sah. Er hatte vor allem im Osten des Römischen Reiches ungeheuren Erfolg, so daß der hl. Hieronymus schreiben konnte: „Ingeminit totus orbis et Arianum se esse miratus est“: Der ganze Erdkreis seufzte auf und wunderte sich, daß er arianisch geworden war. Nun erfaßte diese Irrlehre auch die Stämme der Germanen, besonders die Ost- und Westgoten und es bedurfte mehrerer Konzilien – so zu Nicaea 325, Konstantinopel 381, Ephesus 431 und Chalkedon 451 – bis diese den Grundbestand des Glaubens bedrohende Irrlehre überwunden war. Zeitenweise waren ihr große Teile des Episkopats verfallen, die dann z. B. den hl. Athanasius mehrfach von seinem Bischofssitz vertrieben.
Auch die späteren Jahrhunderte erlebten Irrlehren, die nicht nur die Kirche, sondern auch das seit Konstantin I. († 336) christliche Reich erschütterten, zumal sie nicht selten von den Kaisern gefördert wurden.
Ein neuerlicher Ausbruch von Häresie ereignete sich ab dem 11. Jahrhundert, als, vom Balkan eingeschleppt, die Irrlehre der Katharer, auch Albigenser genannt, verbreitete. Eine radikale Verwerfung der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus verband sich mit einem ebenso radikalen Nein zur Schöpfung, die den Katharern als Werk eines bösen Gottes galt. Sie lehnten die kirchlichen Sakramente, Ehe und Zeugung, sowie den Eid als Teufelswerk ab und untergruben so auch die Grundlagen der zivilen Gesellschaft und der weltlichen Herrschaft. Besondere Anziehungskraft eignete ihnen wegen ihres sittenstrengen Lebens.
Ihre Anhänger drangen bis in die höheren Ränge des Klerus ein, sie bildeten schließlich eine Art Untergrund-Gegenkirche. Existenziell gefährlich wurden sie für die Kirche, weil sie in ihr gleich einer „Fünften Kolonne“ wirkten.
Der Schrecken, den ihre Entdeckung hervorrief, führte zur Einführung der Inquisition. Schließlich gelang es den eben in dieser Zeit entstandenen Bettelorden der Dominikaner und der Franziskaner – denen weitgehend die Inquisition übertragen wurde – sie durch die ebenso fromme wie gelehrte Predigt der Dominikaner und das arme und der Nächstenliebe gewidmete Leben der Franziskusjünger geistig, religiös zu überwinden. Die Rolle der Inquisitionsgerichte und die Zahl der von diesen verhängten Todesurteile werden – besonders letztere – in populären Darstellungen meist grotesk übertrieben.

Das Abendländische Schisma
Der nächste „Vulkanausbruch“ betraf dann zwar nicht den Glauben, umso mehr aber die Einheit der Kirche: das Große Abendländische Schisma, das vom 20. September 1378 bis 11. November 1417 die Kirche erst in zwei, seit 1409 sogar in drei Teile zerriß.
Aus welchen Gründen es dazu kam, kann hier nicht erörtert werden. Jedenfalls erklärten die Kardinäle – mit wenigen Ausnahmen – die Wahl Urbans VI., den sie selbst kein halbes Jahr zuvor gewählt hatten, für ungültig und wählten Robert von Genf als Papst, der sich Clemens VII. nannte. Alle Bemühungen, um die Behebung des Schismas, das sich durch die anschließenden Wahlen von Nachfolgern für Clemens und Urban verfestigt hatte, waren vergeblich. Da trennten sich die meisten Kardinäle von ihren „Päpsten“, vereinigten sich, erklärten diese für abgesetzt und wählten auf dem Konzil von Pisa 1409 als ihren „Papst“ Alexander V.
Da keiner der „Abgesetzten“ aufgab, gab es nun drei, die Anspruch erhoben, Nachfolger Petri zu sein. Eine geradezu perverse Situation, die in schreiendem Widerspruch zum Wesen der Kirche war. Erst das Konzil von Konstanz vermochte durch die Wahl eines nun allgemein anerkannten Papstes – es war Martin V. – am 11. November 1417 die Einheit wieder herzustellen. Diesmal hatte die Krise nicht den Glauben, wohl aber das hierarchisch-sakramentale Gefüge der Kirche zutiefst erschüttert. Zerstören konnte sie es nicht.


Reformation und Aufklärung
Es dauerte gerade hundert Jahre, als der Sturm der Glaubensspaltung Luthers, Calvins und Zwinglis über die Kirche hinwegfegte und nahezu ganz Nord- und Mitteleuropa von der Kirche losriß. Nur Spanien, Italien, Bayern, Teile Frankreichs und Polens sowie Österreichs blieben katholisch. Ein verheerender Zusammenbruch! Doch auch diese Katastrophe wurde überwunden. Das 1546-1564 mit Unterbrechungen tagende Konzil von Trient läutete eine Epoche ebenso religiöser wie kultureller Blüte der Kirche ein, die mit neugewonnenen Kräften auf die Neue Welt und Asien ausgriff und dort das Evangelium anpflanzte.
„Succisa virescit“ – so der Wahlspruch der Abtei Montecassino – „aus dem Baumstumpf grünt neues Leben“. Doch auch diese Blüte welkte. Es brach das Zeitalter der kritiklosen Anbetung der Vernunft an, der Aufklärung. Ihre radikalen Vertreter leugneten die Existenz Gottes, weniger radikale sahen in Jesus Christus allenfalls ein sympathisches Tugendmuster und in der Kirche eine moralische Volkserziehungsinstanz. „Écrasez l’infame“, zerschmettert die Verruchte (Kirche), hatte Voltaire gefordert, und: die Pfaffen an die Laternen!
Zurückblieb ein Frankreich, das kirchlich gesehen „verbrannte Erde“ war. Das übrige katholische Europa erlebte tiefe Einbrüche im kirchlichen Leben.
Wer konnte damals ahnen, daß schon bald nach der Jahrhundertwende gerade in dem am schwersten betroffenen Frankreich 1253 kirchlich anerkannte Ordensgemeinschaften entstehen würden? Eine ähnliche – wenn auch bescheidenere – Entwicklung war im übrigen Europa festzustellen, wo auch der religiöse Kahlschlag nicht so radikal gewesen war wie in Frankreich.
Nun könnten wir von der Modernismuskrise der Jahre um 1900 sprechen, deren Auswirkungen wir noch heute spüren – doch sei es genug damit.
Nach diesem kurzen, bruchstückhaften Überblick mag klar werden: Krise, Bedrohung, Verfolgung sind zwar keineswegs der Idealfall, wohl aber der kirchengeschichtliche Normalfall.
Dabei ist eines gewiß: die gefährlichsten Bedrohungen für die Kirche kommen nicht von ihren äußeren Feinden, sie kommen von innen. Immer sind es Glaubensschwund und Absinken des sittlichen Lebens, die die Kirche am gefährlichsten verwüsten. Indes hat Jesus selbst nichts anderes verheißen: In der Welt werdet ihr Bedrängnis haben, doch seid getrost, ich habe die Welt überwunden.
Wann die gegenwärtige Prüfung vorübergehen wird, wissen wir nicht. Bis dahin aber sind Treue, Vertrauen und Gelassenheit vonnöten, aber auch Vertiefung des Glaubens, Bemühen um sittliche Läuterung – und Übung der Liebe.
Vor allem gilt es nicht zu vergessen, daß Gott der Herr der Geschichte ist, dessen Ratschlüsse unerforschlich und dessen Wege unergründlich sind!

Prälat Walter Brandmüller war Professor für Kirchengeschichte an der Universität Augsburg und Präsident der Päpstlichen Kommission der historischen Wissenschaften in Rom.

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