VISION 20004/2015
« zum Inhalt Schwerpunkt

Aus dem Leben etwas Schönes machen

Artikel drucken Ein Programm, zu dem jeder Mensch einen Beitrag leisten kann: (Von Urs Keusch)

Ja, es läuft vieles schief und es besteht Grund zur Sorge – in vieler Hinsicht. Aber wir sind den äußeren Umständen nicht hilflos ausgeliefert. Die Schönheit des Lebens erschließt sich dem, der beginnt, die Welt mit den Augen Gottes zu betrachten.
 
Ich sah eine große Traurigkeit über die Menschen kommen.“ Das schrieb Friedrich Nietzsche vor über 150 Jahren, als er – mit der ihm eigenen prophetischen Sehergabe – die Zukunft Europas vorausschaute. Er las es an seinem eigenen Leben ab, was kommen wird. „Da es keinen Gott mehr gibt, ist die Einsamkeit nicht mehr zu ertragen“, schrieb er an seine Schwester.
Da es keinen Gott mehr gibt... Und wo es keinen Gott mehr gibt, da gibt es auch keine Hoffnung mehr, keine Schönheit, keine Lebensfreude. Da greifen die tödlichen Kräfte um sich. Sie greifen nach dem Leben. Sie greifen in die Wohnstuben hinein (TV, Internet), in die Kinderzimmer (Smartphones, Computerspiele). Sie greifen nach dem werdenden Leben im Schoße der Mütter. Sie greifen nach dem Leben der alten Menschen, die als erste Anrecht haben auf Anerkennung, Wertschätzung, Liebe und Geborgenheit.
Stattdessen nimmt die Zahl der „Exit“-Mitglieder (Exit, eine Vereinigung, die Beihilfe zum Selbstmord leistet) zu den über 80.000 Mitgliedern täglich um etwa 100 Menschen zu. Über 200.000 Menschen haben vor, „Exit“ beizutreten. „Wo alten Menschen keine Ehrerbietung entgegengebracht wird, gibt es keine Zukunft für die jungen Menschen.“ (Papst Franziskus) Traurigkeit kommt über die Menschen...
Spätestens seit Nietzsche (+1900) ist die Traurigkeit, ist der Lebensekel und Lebens­überdruss das unterschwellige und oft auch unverschämt zur Schau gestellte Thema in der Kunst, in Theater, Literatur, Musik, Architektur, ja, bis in die Beziehung der Geschlechter und die Mode hinein. Kunst, die einmal Offenbarung des Schönen, des Guten, des Göttlichen und somit in der Mühsal des Alltags Inspiration zur Freude und Hoffnung war, sie ist heute weitgehend abgeglitten ins Dämonische, ins Hässliche. „Ein großer Teil unserer Kunst ist dämonisch.“ (Simone Weil)
Das müssen wir wissen. Und erst mit diesem Wissen erwächst uns auch die Einsicht in die Rettung, die nur das Heilige und Reine und Schöne und Gute sein kann. Für uns Christen hat Rettung den schönen Namen Jesus Christus, der als Geist der Wahrheit, der Liebe und des Schönen in seiner Kirche lebendig wirksam ist. Denn „die Seele erhält ihren hohen Rang durch die Liebe und außerhalb der Kirche gibt es keinen Schmuck.“ (Mechthild von Magdeburg)
Vom russischen Dichter Dostojewskij, der – wie viele andere – leidenschaftlich mit den Mächten der westlichen Todeskultur (Nihilismus) gerungen hat, von ihm  stammt das bekannte Wort: „Schönheit wird die Welt erlösen.“ Der verstorbene Kardinal Martini hat dieses Wort aufgegriffen und zum Gegenstand tiefsinniger Betrachtung gemacht. Er schrieb darüber ein empfehlenswertes Büchlein Welche Schönheit rettet die Welt? (Neue Stadt) Darin spricht er die Überzeugung aus:
„Es ist nicht damit getan, all das Böse und Hässliche in unserer Welt zu beklagen und anzuklagen. Es ist in unserer ernüchterten Epoche auch nicht damit getan, von Gerechtigkeit, von Pflichten, vom Gemeinwohl, von Pastoralprogrammen, von Forderungen des Evangeliums zu reden. Wenn wir davon sprechen wollen, dann mit einem Herzen voll leidenschaftlicher Liebe. Wir müssen jene Liebe erfahren, die freudig gibt und begeistert; wir müssen die Schönheit dessen, was wahr und richtig im Leben ist, ausstrahlen; denn nur diese Schönheit kann Menschen innerlich erfassen und auf Gott ausrichten. Es geht darum zu verstehen, was Petrus vor dem verklärten Christus aufgegangen ist: ‚Herr, es ist schön, dass wir hier sind!‘ (Mt 17,4)“
Treffender könnte nicht ausgedrückt werden, worauf es heute vor allem ankommt: „Herr, es ist schön, dass wir hier sind!“ Das müssen wir zuerst begriffen haben, und wir müssen es ergreifen! Dann können wir es ausstrahlen, so, wie z.B. Mutter Teresa es gelebt und ausgestrahlt hat und den Menschen immer wieder ans Herz gelegt hat: „Machen Sie aus dem Leben etwas Schönes!“
Etwas Schönes machen wir, wenn wir – aus „einem Herzen voll leidenschaftlicher Liebe“ – bewusst das Licht der Freude in unserem Leben hochhalten. Wenn wir das Licht der Freude unseren Kindern mit ins Leben geben. Wenn wir uns aufmachen und die Freude zu den kranken, einsamen und in der Hoffnung angefochtenen Menschen bringen. Wenn wir unser Umfeld schön gestalten: Das Haus, die Wohnung... Wenn die Frauen sich abkehren von einer mondänen, hässlichen Mode und ihr weibliches Charisma wieder in einer fraulichen, anmutigen Kleidung zum Ausdruck bringen, und so weiter.
Das Leben ist schön, weil es gut ist. Das Leben ist gut, weil es aus den Händen Gottes hervorgeht. Das Leben ist gut und schön, ja herrlich selbst dann, wenn es schweren Prüfungen ausgesetzt ist, selbst Krankheit, Bedrohungen und Tod. Tief beeindruckt war ich immer wieder von zwei Menschen, die diese Daseinsgüte besonders strahlend mit ihrem Leben zum Ausdruck gebracht haben: der Armenpriester Abbé Pierre und die Jüdin Ester H..
Als Abbé Pierre einmal eine Emmausgemeinschaft besuchte, sagte ein älterer Mann, der in der Gemeinschaft tätig war, zu ihm: „Vater, ich werde blind, ich werde zu nichts mehr nütze sein. Und die Arbeit hier gab meinem Leben seit 15 Jahren einen Sinn!“
Da gab Abbé Pierre ihm zur Antwort: „Es stimmt nicht, dass du dann nicht mehr dienen wirst. Bis zum letzten Augenblick deines Lebens kannst du dem Kameraden zulächeln, der dir deine Teller bringt, und wenn ihm dein Lächeln hilft, alles zu verrichten, was er noch den ganzen langen Tag tun muss, dann hast du ihm gedient.“
Dieser Abbé Pierre war es dann auch, der immer wieder daran erinnerte: „Die Rolle jedes einzelnen Menschen liegt in der Beweisführung, dass die Welt, dass das Leben nicht sinnlos ist.“
Ein anderes überragendes Zeugnis, dass das Leben selbst in der äußersten Erprobung und im Angesicht des Todes seine Güte behält, drückt die Jüdin Esther H. aus, die im gleichen Transitlager Westerbork (Hol­land) interniert war wie Edith Stein und mit 29 Jahren (am 7. September 1943) nach Auschwitz zur Vernichtung deportiert wurde. In diesem Lager der Gefangenen schreibt sie in einem ihrer letzten Briefe:
„Das Elend, das hier herrscht, ist wirklich unbeschreiblich. Wir hausen in den großen Baracken wie Ratten in einem Abwasserkanal. Man sieht viele dahinsterbende Kinder (…) Das Elend ist wirklich groß, und dennoch laufe ich oft am späten Abend, wenn der Tag hinter mir versunken ist, mit federnden Schritten am Stacheldraht entlang, und dann quillt es mir immer wieder aus dem Herz herauf – ich kann nichts dafür, es ist nun einmal so, es ist von elementarer Gewalt –: Das Leben ist etwas Herrliches und Großes, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen – und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen. Wir dürfen zwar leiden, aber wir dürfen nicht darunter zerbrechen (…) Gott ist nicht verantwortlich für das sinnlose Leid, das wir einander zufügen. Wir sind vor Gott dafür verantwortlich.“
Und auf einer aus dem Zug nach Auschwitz geworfenen Postkarte schreibt sie ihrer Freundin: „Wir haben das Lager singend verlassen . (…) Christine, als ich die Bibel aufs Geratewohl öffnete, fand ich dies: ,Der Herr ist mein hoher Hort’.“
Weil uns unser Leben von Gottes Güte geliehen ist, weil Er es in Händen hält, weil Er uns liebt und uns in Seinem Sohn ein Beispiel auch im äußersten Leiden gegeben hat, darum ist unser Leben heilig und schön und gut und wir dürfen es nicht durch Missmut, Pessimismus, Weichlichkeit, ja Zynismus entweihen. Und wir dürfen es niemals Seinen Händen eigenmächtig entreißen.
Solches Zeugnis der Ehrfurcht vor dem Leben und der heiligen Gottesfurcht erbringen auch heute ungezählte Menschen in ihren Krankenbetten, in Gefangenenlagern und selbst angesichts tödlicher Bedrohungen und Folter. „Nichts hat mir in meinem Beruf mehr Kraft und Mut gegeben als die stillen Dulder und Dulderinnen, die in ihren Schmerzen und Ängsten Gott ergeben geduldig ausgeharrt haben,“ sagte mir kürzlich eine erfahrene Krankenschwester.
Vergessen wir es nie: „Ich bin eine Mission auf dieser Erde, und ihretwegen bin ich auf dieser Welt!“ (Papst Franziskus, Evangelii gaudium) Und diese Mission heißt für uns alle: „Wir müssen die Schönheit dessen, was wahr und richtig im Leben ist, ausstrahlen!“
Ausstrahlen, ja, ausstrahlen!                                                                    

© 1999-2024 Vision2000 | Sitz: Hohe Wand-Straße 28/6, 2344 Maria Enzersdorf, Österreich | Mail: vision2000@aon.at | Tel: +43 (0) 1 586 94 11