VISION 20004/2015
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Glückseligkeit und die vielen kleinen Glückserfahrungen

Artikel drucken Gespräch über die Frage: Was macht das Leben schön und kostbar?

 

Trotz rastloser Suche nach Glück finden es viele nicht. Wird es übersehen? Oder wissen viele gar nicht mehr, wo es zu suchen und zu finden ist? Ein Psychotherapeut und ein Theologe im Gespräch über ein spannendes Thema:

Alle Menschen sind auf der Suche nach Glück, heißt es. Aber nicht alle meinen damit dasselbe. Wie würden Sie Glück definieren?
Christophe André: Als Wohlbefinden verbunden mit dem Bewusstsein, dass es einem gut geht. Wenn wir uns bewusst machen, was uns alles an physischen Wohltaten, intellektuellen Annehmlichkeiten, ästhetischen Ge­­nüssen, an Freuden über das Wiedersehen mit Freunden zuteil wird, vermögen wir, all das in etwas umzuwandeln, was mehr als Wohlbefinden ist: in Glück.
P. Pascal Ide: Das Problem ist nur, dass dieses Bewusstmachen bereits das Glück beeinträchtigt. Wenn ich mich frage: „Bin ich wirklich glücklich?“, während ich mich an einem köstlichen Mahl erfreue, bin ich nicht mehr ganz dem Genuss hingegeben.
André: Stimmt. Dieses Be­wusst­machen ist ein Vorgang, der schwieriger ist, als man glaubt. Ihm stehen im Alltag viele Hindernisse, „Psycho-Verschmutzungen“ entgegen: Sorgen, Stress, Müdigkeit, übertriebene Ansprüche… Daher wird auch viel Glück erst im Nachhinein erfahren…

Kann man eigentlich ununterbrochen glücklich sein?
André: Sicher nicht. Das Leben sorgt schon dafür, dass man daran erinnert wird: einen dauernden Glücksstrom gibt es nicht. Außerdem gibt es Lebensphasen, in denen sich nicht die Frage nach dem Glück stellt, sondern wo es um Überleben, Kampf, Engagement geht. Andererseits kommen größere Widrigkeiten oder Katastrophen in unserem Alltag nur selten vor! Was mich interessiert: die vielen Gelegenheiten, wo man glücklich sein könnte, es aber nicht ist. Bei meinen Patienten, meinen Freunden, meinen Kindern, an mir selbst stelle ich fest: Wir verplempern das Glück. Der Hang zum Unglücklichsein, die Schwarzmalerei versperren uns oft den Zugang zum kleinen Glück. Darüber hinaus denke ich: Glücklich zu sein, erfordert einen Willensakt…
P. Ide: Was Sie da erwähnen, sind für mich die Freuden und Ver­gnügen des Alltags. Diesbezüglich teile ich Ihre Ansicht: Man sieht all das zu wenig, übersieht es manchmal sogar total. Ich bedaure jedoch, dass der Begriff Glück auf diese Weise verblasst und verkürzt wird. Ich verwende ihn nämlich für das Gut, das sättigt und mich ganz erfüllt. Ich identifiziere mich mit dem Wort des hl. Augustinus aus seinen Confessiones, das den gesamten Westen geprägt hat, dem berühmten Satz: „Du hast uns zu Dir hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir.“ Wenn man nur „das kleine Glück“ sucht, besteht da nicht die Gefahr: Man verliert die tiefe Unruhe aus den Augen, die uns daran erinnert, für das Unendliche geschaffen zu sein? Die „kleinen Vergnügen“ – bergen sie nicht die Gefahr, dass sie mich ablenken und ich vergesse, dass ich ein sterbliches Wesen und – wie mir der Glaube sagt – ein Wesen bin, das nur die Unendliche Liebe wirklich erfüllen kann?
André: Ich wähle den entgegen gesetzten Zugang: Mir ist wichtib, Glück in den Alltag hereinzuholen! Mir und meinen Lieben soll nicht dasselbe Missgeschick passieren, wie vielen anderen: Sie warten auf „die große Liebe“ – und finden sie nie. Daher sage ich meinen Patienten: Warten Sie nur ja nicht auf das große Glück. Während sie nach dem großen Goldklumpen Ausschau halten, gehen sie an den Körnern vorbei. Ich lenke ihre Aufmerksamkeit auf vier Zeitworte: sein – das fast tierische Glück, sich der Existenz zu erfreuen; haben – das Glück, Dinge zu besitzen, die man mag; tun – das Glück in der Arbeit, im Sport, im Schaffen, im Basteln aktiv zu sein; zugehören – das Glück, eine Familie zu haben, Freunde, Mitglied einer Gruppe, eines Vereins zu sein… Unsere alltäglichen Freuden spielen sich fast alle in einer dieser Kategorien ab. Sobald man das erkennt, muss man Tag für Tag üben, es wahrzunehmen und zu pflegen. Zugegeben, es sind kleine Freuden, elementare, bescheidene, aber sie sind in unserer Reichweite. Was das große Glück anbelangt: Es wird uns als Gnade angeboten…

Sie unterscheiden „gezüchtetes Glück“ und „wildes Glück“…
André: Es gibt das erzeugte Glück, Frucht unseres Mühens. Man kann es mit den Blumen im Garten vergleichen, deren Anblick natürlich erscheint, die aber Frucht der Arbeit und der Zeit sind; Letzteres muss man zu schätzen lernen. Es gibt aber auch Glückserlebnisse, die uns überraschen, die wir nicht gesucht, nicht erahnt, nicht verdient haben. (…) Auch bezüglich dieser „Gnaden“ kommt uns die Aufgabe zu: Man muss annehmen, empfangen lernen, offen für sie bleiben.
P. Ide: Unsere Sichtweisen unterscheiden sich voneinander, aber in vier Punkten stimme ich komplett mit Ihnen überein.
Erstens: Das Glück erfordert Aktivität, es ist kein passiver Zustand. Man erwartet das Glück nicht, man erwirbt, erobert es…
Zweitens: Das Glück hängt nicht nur von äußeren Umständen ab, sondern vom inneren Blick, mit dem ich das Geschehen betrachte.
Drittens: Das Glück liegt nicht im Morgen, sondern im Heute.
Und viertens: Unser menschliches Glück kann nicht von den Stunden des Unglücks absehen, nicht die tragischen Momente unserer Existenz ausblenden.
André: Wir sind die einzigen Lebewesen, die wissen, dass sie sterblich sind. Das löst bei einigen von uns fortgesetzte, schwindelerregende Angst aus. Woody Allen hat diesbezüglich festgestellt: „Seit der Mensch weiß, dass er sterblich ist, fällt es ihm schwer, ganz entspannt zu sein.“ Man tut so als ob, verdrängt das Problem, indem man sich ablenkt, sich dem Genuss hingibt, Drogen nimmt… Die Sorge aber bleibt erhalten. Das Glücksgefühl allein hilft uns, dem standzuhalten. Claudel hat zurecht festgestellt: „Das Glück ist nicht das Ziel des Lebens, sondern das Mittel zu überleben.“ Meiner Meinung nach lebt man nicht, um glücklich zu sein, sondern man schafft das Leben, weil man von Zeit zu Zeit glücklich ist.
P. Ide: Für mich sind es nicht die netten Freuden des Alltags, die mir über Rückschläge hinweghelfen. Da bin ich mir sicher: Es ist das Streben nach meinem Ziel, das Ausgerichtet-Sein auf das Absolute, das mich erfüllen wird. Der Blick auf den Berggipfel zieht mich an, er lässt mich voranschreiten.
André: Dann bin ich eben der Wanderer, der die Blümchen am Wegrand pflückt und sich aller Freuden, die der Anstieg bietet, erfreut…
P. Ide: Indem ich meine Seligkeit von einem endlichen Ding erhoffe, wird es zum Idol. So sehe ich das als Christ – das ist die eigentliche Sünde. Psychologisch gesehen heißt das: Wenn ich meine Sehnsucht nach dem Unendlichen in etwas Endliches umlenke, gerate ich in Abhängigkeit. Abhängig ist, wer sich von etwas Endlichem, das sich aufbraucht, Unendliches erwartet. Er wird Gefangener dieser Illusion, dieser Bindung. Der Umstand, dass unsere Zeitgenossen, die sich so der Suche nach dem Glück verschrieben haben, so trübselig sind, zeigt, dass sie Unendliches vom Endlichen erwarten.
(…) Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Ich glaube, es besteht die Gefahr, die große Suche nach dem Unendlichen aus den Augen zu verlieren, wenn man das Glück als nichts anderes ansieht als eine Abfolge endlicher Freuden.
André: Ich bin überzeugt: Das Glück beschränkt sich nicht auf die Befriedigung unserer Wünsche und es ist auch nicht die Summe vergnüglicher Momente, die Ansammlung oder Wiederholung von Vergnügungen, die uns – durch Enttäuschung und Frustrierung – vom Glück abhalten. Mein Ansatz ist jedoch der des Arztes. Meine Patienten sind depressiv, ängstlich. Glück ist für sie ein unerreichbarer Kontinent, ein abgelehnter Zustand. Für sie ist das Leben eine ganz schwere Last. Da versuche ich, sie zu überzeugen, dass es Glücksmomente gibt – und dass diese hilfreich für das Leben sind.
P. Ide: Als Christ versuche ich zwei Überzeugungen hochzuhalten: Das Glück ist hier auf Erden möglich, aber die Seligkeit kann man hiernieden nicht zur Herrschaft gelangen lassen. Letzteres wollten die großen Utopien des 20. Jahrhunderts erreichen. Und wie viele sind heute noch deren Opfer! Erwachsensein bedeutet: Brüche und Fehlschläge zu akzeptieren; damit zurechtzukommen, dass mich der andere enttäuscht, ja – was noch schwieriger ist –, dass ich von mir selbst enttäuscht bin. Damit kultiviert man eine durchaus schöne Weisheit – aber das ist nicht alles. Man bleibt auf dem Niveau des Hedonismus (der Suche nach Vergnügen), man ist noch nicht beim Eudämonismus angelangt (auf Griechisch das wahre Glück).
Wir sind für das Absolute geschaffen. Nur das Unendliche wird dem, der unendlich ist, gerecht. Es so zu sagen, klingt extrem theoretisch. Man muss die entsprechenden Erfahrungen gemacht haben, um zu begreifen, dass hier auf Erden nichts wirklich erfüllen kann. Ein Beispiel: Man kann von einem Verliebten nicht verlangen, dass er im anderen nicht das Unendliche sucht. Die beiden werden erst leidvolle – aber befreiende – Erfahrungen machen müssen, um zu begreifen, dass der andere nicht alles ist, ihn nicht erfüllen kann. Schrittweise begreift man, dass unser Herz für Größeres, als wir hier vorfinden, geschaffen ist.
André: Was Sie als Glück bezeichnen, nenne ich Glückseligkeit. Es stimmt, ich sehe von der spirituellen Dimension ab. Gegen das, was Sie aus theologischer und philosophischer Sicht sagen, habe ich keine Argumente. Sie zeigen sehr gut die Grenzen meiner Aussagen auf: Ich spreche nur als Psychologe!
P. Ide: Alles, was Sie ausführen, kann ich von meinem Glauben her gut verstehen. Es gibt so viele Katholiken, die es sich nicht gestatten, glücklich zu sein. Die Strenge des 18.-19. Jahrhunderts hat Schuldgefühle in Bezug auf Sehnsüchte und Gefühle produziert. Das Gefühlsleben wurde aus der Theologie ausgeblendet. Sie helfen uns auch aus unserer falschen Vorstellung, das Glück müsse ein Dauerzustand sein, heraus. Glück, ebenso wie Liebe, müssen errungen werden…

Kann man, Ihrer Ansicht nach, hier auf Erden wirklich glücklich sein?
André: Den meisten von uns wird die Glückseligkeit hier wohl nicht zuteil. Daher muss man versuchen, so glücklich wie möglich zu sein. Die Demut aufbringen, nicht das unerreichbare, große Glück hier zu suchen – so sehe ich das. Dennoch aber mit ganzer Seele, ganzem Herzen und mit allen Kräften sich bemühen, so glücklich wie möglich zu sein. Zunächst, weil es einem gut tut, dann aber auch, weil es die Großzügigkeit und die Offenheit anderen gegenüber stärkt. Aus psychologischer Sicht wird man sich heute der wohltätigen Wirkung der Dankbarkeit bewusst: innehalten und sich bewusst machen, was man empfangen hat…
P. Ide:  Ja, die größten Freuden in unserem Leben erleben wir im Dienst an den anderen. Im wohlverstandenen Sinn wohlgemerkt: Auch da besteht die Gefahr, falsch zu liegen, sich aufzuopfern oder vor sich selbst zu fliehen. Da wir nach dem Abbild Gottes geschaffen sind, ist die liebevolle Hingabe das Größte, was es gibt.
Auszug aus einem Interview von Luc Adrian in Famille Chrétienne v. 10.7.04 . Christophe André ist Psychiater in Paris und lehrt an der Universität Paris X. P. Pascal Ide ist Priester, Doktor der Medizin und der Philosophie sowie Autor mehrerer Bücher.

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