VISION 20004/2015
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Es war ein gesegneter Tag

Artikel drucken Da standen vier Muslime vor der Tür… (Fouad Adel)

Zu meinen pastoralen Aufgaben gehörte auch die Gefängnisseelsorge. Zu der Zeit herrschte dort im Sudan schon drei Jahre lang das harte Scharia-Gesetz. Eines Tages, während meines Besuches im Gefängnis, erzählte mir der Gefängnisdirektor, dass mich vier Gefangene sprechen möchten. In seinem Büro sah ich vier traurige Gesichter. Die Spuren von Folter und Gewalt waren deutlich zu sehen.
Alle vier waren Muslime. Ihre Verbrechen waren Diebstahl und Alkoholgenuss. Sie wurden zu Gefängnis- und Geldstrafen verurteilt. Ihre Strafzeit hatten sie gerade abgesessen, aber keiner war in der Lage, die Geldstrafe aufzubringen. Sie baten mich um Hilfe. Sie wollten, dass ich die Geldstrafe für sie übernehme, damit sie freigelassen würden.
Ich war für einige Sekunden still und schaute in eine Ecke des Zimmers. In diesen wenigen Sekunden lief vor meinen Augen die Geschichte des Barmherzigen Samariters ab. Noch am selben Morgen hatte ich im Gottesdienst über dieses Gleichnis Jesu gepredigt. Deutlich klang die Frage aus dem Lukas­evangelium in meinen Ohren: „Was meinst du? Wer von diesen dreien ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Bei der Erinnerung an diese Frage traten mir die Tränen in die Augen, und ich sagte den muslimischen Gefangenen zu, ihre Geldstrafe zu bezahlen, damit sie frei würden.
Eine Woche später klingelte es an meiner Tür. Unerwartet standen dort die vier Männer. Einer sagte: „Wir sind zusammen gekommen, um Ihnen für Ihre Hilfe zu danken.“
Bevor ich antworten konnte, fragte mich ein anderer, ob ich wüsste, dass sie Muslime seien, für die wir Christen bezahlt hätten. Ich sagte: „Ja, aber das spielt keine Rolle, wir sind alle Gottes Geschöpfe.“ Er fragte weiter: „Warum haben Sie uns geholfen, obwohl wir Muslime Euch Christen verfolgen?“ Gerade in dieser Zeit hatten Muslime in Port Sudan eine Kirche niedergebrannt und viele Christen ermordet.
Während seiner Frage schauten mich alle tief an, so, als ob sie meine Brust spalten möchten, um mir ins Innerste des Herzens zu schauen. Ich ging zum Tisch, um meine Bibel aufzuschlagen und betete inständig, Gott möge mir Seinen Geist senden, um die richtigen Worte zu finden.
Dann schlug ich das 10. Kapitel des Lukasevangeliums auf und erzählte das Gleichnis des Barmherzigen Samariters in ganz einfacher Sprache. Wir sprachen über das Gleichnis Jesu, und ich konnte beobachten, wie ihre Herzen bewegt wurden. Sie baten mich, ihnen eine Bibel mitzugeben. Ich holte vier illustrierte Bibeln und reichte sie ihnen. Die Liebe Jesu wirkte auf die vier Muslime wie ein Magnet.
Nach einem Jahr entschieden sie sich, ganz für Christus zu leben und dies auch durch die Taufe öffentlich zu bezeugen. Wir waren nur sieben Personen beim Taufgottesdienst: die vier Muslime, ein Diakon, ich, und der siebente war jener, der über sich gesagt hat: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ (Joh 14,6) Es war ein gesegneter Tag, in ihrem Leben, aber auch in meinem.

Der Autor ist Theologe und Islamwissenschaftler aus dem Sudan. Dort wurde er verfolgt und musste flüchten. Heute lebt er in Süddeutschland.

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