VISION 20004/2015
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Es braucht die kleinen Hoffnungen – sie dürfen die große nicht verdecken

Artikel drucken (Papst Benedikt XVI.)

Der Mensch hat viele kleinere oder größere Hoffnungen, Tag um Tag – verschieden in den verschiedenen Perioden seines Lebens. Manchmal kann es scheinen, dass eine dieser Hoffnungen ihn ganz ausfüllt und dass er keine weiteren Hoffnungen braucht. In der Jugend kann es die Hoffnung auf die große, erfüllende Liebe sein; die Hoffnung auf eine bestimmte Stellung im Beruf, auf diesen oder jenen für das weitere Leben entscheidenden Erfolg.
Wenn aber diese Hoffnungen eintreten, zeigt sich, dass dies doch nicht alles war. Es zeigt sich, dass er eine darüber hinausreichende Hoffnung braucht. Dass ihm nur etwas Unendliches genügen könnte, das immer mehr sein wird als das, was er je erreichen kann.
In diesem Sinn hat die Neuzeit die Hoffnung auf die zu errichtende vollkommene Welt entwickelt, die durch die Erkenntnisse der Wissenschaft und einer wissenschaftlich fundierten Politik machbar geworden schien. So wurde die biblische Hoffnung auf das Reich Gottes abgelöst durch die Hoffnung auf das Reich des Menschen, die bessere Welt, die das wirkliche „Reich Gottes“ sein würde. Dies schien endlich die große und realistische Hoffnung zu sein, derer der Mensch bedarf. Sie konnte – für einen Augenblick – alle Kräfte des Menschen mobilisieren; das große Ziel schien allen Einsatzes wert. Aber im Lauf der Zeit zeigte sich, dass diese Hoffnung immer weiter davonläuft. Es wurde den Menschen zunächst be­wusst, dass es vielleicht eine Hoffnung für die Menschen von übermorgen ist, aber keine Hoffnung für mich. Und so sehr zur großen Hoffnung das „Für alle“ gehört, weil ich nicht gegen die anderen und nicht ohne sie glücklich werden kann, so ist umgekehrt eine Hoffnung, die mich selber nicht betrifft, auch keine wirkliche Hoffnung.
Und es zeigte sich, dass dies eine Hoffnung gegen die Freiheit ist, denn der Zustand der menschlichen Dinge hängt in jeder Generation neu von der freien Entscheidung dieser Menschen ab. Wenn sie ihnen durch die Verhältnisse und die Strukturen abgenommen würde, wäre die Welt doch wieder nicht gut, weil eine Welt ohne Freiheit keine gute Welt ist. (…)
Und immer tut sich dabei die Frage auf: Wann ist die Welt „besser“? Was macht sie gut? Nach welchem Maßstab bemisst sich ihr Gutsein? Und auf welchen Wegen kann man zu diesem „Guten“ kommen?
Noch einmal: Wir brauchen die kleineren oder größeren Hoffnungen, die uns Tag um Tag auf dem Weg halten. Aber sie reichen nicht aus ohne die große Hoffnung, die alles andere überschreiten muss. Diese große Hoffnung kann nur Gott sein, der das Ganze umfasst und der uns geben und schenken kann, was wir allein nicht vermögen.
Gerade das Beschenktwerden gehört zur Hoffnung. Gott ist das Fundament der Hoffnung – nicht irgendein Gott, sondern der Gott, der ein menschliches Angesicht hat und der uns geliebt hat bis ans Ende: jeden einzelnen und die Menschheit als ganze.
Sein Reich ist kein imaginäres Jenseits einer nie herbeikommenden Zukunft; Sein Reich ist da, wo Er geliebt wird und wo Seine Liebe bei uns ankommt. Seine Liebe allein gibt uns die Möglichkeit, in aller Nüchternheit immer wieder in einer ihrem Wesen nach unvollkommenen Welt standzuhalten, ohne den Elan der Hoffnung zu verlieren.
Aus: Spe salvi 30f

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