VISION 20005/2012
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Keine Briefe mehr – wie schade!

Artikel drucken (Jean de Viguerie)

Die Leute beklagen sich: Ich bekomme keine Briefe mehr, keine echten Briefe. Allerdings, um welche zu bekommen, muss man auch Briefe schreiben. Früher spielte der Brief eine bedeutende Rolle im Leben. Man erwartete ihn ungeduldig, lebte in seiner Erwartung. Acht Tage schienen wie ein Jahrhundert. Man war dem Gleichgültigen gram, der nicht schrieb. Man fühlte sich verlassen.
Und dann kam er endlich. Nachdem man ihn gelesen hatte, las man ihn noch einmal. Man hob ihn auf. Jahre später entdeckte man ihn wieder. Sein Autor, obwohl längst verstorben, war plötzlich wieder da. Das ließ Émilie de Villeneuve, eine Briefpartnerin von Chateaubriand, sagen: „Die Vorsehung wollte, dass die unsterbliche Seele nicht ganz diese Welt verließ.“
Der Brief ist dem Wort überlegen. Er beglückwünscht, tröstet, drückt Liebe aus, belebt die Freundschaft – und teilt vor allem Neuigkeiten mit. Das Unnotwendige, das Übermaß an Details sind sein besonderer Reiz. An ihnen haben die Historiker ihre Freude.
Die Gattung Brief kennt unzählige Spielarten. Man kann sie gar nicht alle aufzählen. Drei von ihnen sind meiner Meinung nach ausgestorben. Der Brief als Zeugnis: Nach dem Tod Ludwig XIV. schrieb Madame de Maintenon an eine Freundin: „Madame, ich sah den König wie einen Heiligen, wie einen Helden sterben.“ Dann der Brief als Akt der Hinrichtung: Madame Deffand war da eine Meisterin. An Rousseau schrieb sie eines Tages: „Ich habe bisher nichts gelesen, was mehr dem Hausverstand widersprochen hätte als Ihr Émile, und nichts Langweiligeres als Ihr Contrat social.“
Und schließlich der Brief eines Lesers an den vergötterten Autor: „Meister, ich habe Ihr unvergessliches Werk gelesen, ohne Schiffbruch zu erleiden.“ Künftigen Autoren wird keine solche Anerkennung mehr zuteil werden. Ein Autor, den ich kenne, hat nachdem er innerhalb von drei Monaten 2.000 Exemplare seines neuen Buches verkauft hatte, nur eine einzige Rückmeldung erhalten. Er war am Boden zerstört. Allerdings hatte der Brief einen Weg über zwei Ozeane hinter sich. Er kam aus Tahiti. Dort schreibt man eben noch.
Das Ursprüngliche kennzeichnet den Brief. Folgendes hat Racine an seinen Sohn geschrieben: „Ihre Briefe wirken sehr authentisch und je mehr Sie schreiben, umso leichter wird es Ihnen fallen.“ Das stimmt. Man muss viele Briefe schreiben. Das fördert die Freude und die Inspiration. Kleine Kinder sollten schon früh lernen, Briefe zu schreiben, etwa um sich für Geschenke zu bedanken. Der Dankbrief darf nicht aussterben. Unter allen Arten von Briefen ist er der edelste.

Der Autor ist Historiker und Co-Autor von Livre noir de la Révolution française, der Text ist L’Homme nouveau v. 14.7.12 entnommen.

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