VISION 20005/2012
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Man muss doch offen, liberal, tolerant sein…

Artikel drucken Antwort auf eine gängige Forderung:

Soll man alles schlucken? Nie etwas sagen? Stellen wir bestimmte Verhaltensweisen in unserer Umgebung infrage, heißt es, wir seien Pharisäer.“ So fragen mich Eltern und erzählen: „Wir müssen doch mit unseren großen Kindern über solche Sachen reden und manchmal auch (leider) Kritik üben an Situationen in deren Umfeld: Cousins, die zu unseren Familientreffen kommen und unverheiratet zusammenleben, wiederverheiratete Geschiedene, die zur Kommunion gehen und sich über die Lehre der Kirche hinwegsetzen, Religionslehrer die stolz verkünden, dass ihre Teenies den Freund oder die Freundin mit auf Familienurlaub und ins Bett nehmen… Wie sollen wir da unsere Kinder anhalten, nach den Evangelien zu leben, ohne dabei unser Umfeld zu kränken – und doch nicht zu allem Ja und Amen sagen.“
Niemand will als Pharisäer dastehen! Er fühle sich anderen überlegen, heißt es, sei unbarmherzig mit Sündern, unfähig, sich an die gesellschaftliche Entwicklung anzupassen. Sein Moralismus verberge wohl eine krankhafte Verdrängung…
Paradox ist allerdings, dass in der jüdischen Geschichte der Pharisäismus zunächst eine gesunde Reaktion war: die Rückkehr zur Torah in einer Zeit, als das griechische Heidentum seine politische und kulturelle Macht in Vorderasien ausweitete. Es kam zum Zugriff der Makabäer-Nachkommen auf den Tempel, obwohl sie nicht priesterlicher Abstammung waren. Die Pharisäer waren entschieden gegen Kompromisse (…) Ihr eifriges Studium der Schriften verlieh ihnen religiöse und moralische Autorität. (…) Zur Zeit Jesu waren sie die Eifrigsten im Volk – ein Eifer, von dem auch der Apostel Paulus Zeugnis gibt, wenn er von seiner Jugend spricht.
Die Kehrseite dieses Eifers war die Verhärtung der Herzen: der geistige Stolz, der Vorrang äußerlichen Wohlverhaltens vor innerer Bekehrung, die Verachtung für „dieses Volk, das vom Gesetz nichts versteht, verflucht ist es“ (Joh 7,49) und zu guter Letzt die Ablehnung der Neuigkeit des Evangeliums.
Daher wollen wir nur ja keine Pharisäer sein. Allerdings laufen wir Gefahr, in die Falle des Relativismus zu tappen: alles zu tolerieren, sich jedes Urteils zu enthalten, alles geschehen und sagen zu lassen. Damit wechselt das gute Gewissen nur das Lager! Man bastelt sich nach Bedarf eine Moral, legt sich seine eigene Religion zurecht, verurteilt von oben herab jene, die darauf beharren, ihre Prinzipien oder die der Kirche zu verteidigen. So nimmt man nämlich – wie Sie bemerkt haben – grundsätzlich an, dass Gott eben keine Prinzipien hat! Ja, man meint sogar, die Sache des Evangeliums zu vertreten: Hat nicht Jesus Barmherzigkeit vorgelebt, nicht gesagt: „Richtet nicht!“ Barmherzigkeit für alle – zweifellos ja. Aber nicht für alles! Den Bruder nicht richten, ja. Ihn aber auch zurückholen, wenn er gesündigt hat. Jesu Barmherzigkeit ist keineswegs Komplizenschaft. Er liebt den ärgsten Sünder – ich weiß, wovon ich rede. Aber er hasst die Sünde. Man vergisst allzu leicht die Heftigkeit, mit der Er den Tempel gereinigt hat. Und man erwähnt die furchterregenden Drohungen bezüglich des Ärgernisses (Lk 17,2) nicht.
Liberal, tolerant, offen sein? Diese neuen Werte können einen neuen Moralismus verbergen, der jede Infragestellung aus­schließt. Wer ein Sandkorn Wahrheit in diese Maschinerie einschleusen will, braucht ein großes Maß an Selbstsicherheit. Und es braucht etwas Mut, sich nicht auf die Seite der Vorsichtigen, ja der Schweigsamen zu schlagen, angesichts der inakzeptablen Entwicklung der Sitten und Gesetze.
Was die Kunst und die Form betrifft, zur Wahrheit zu stehen, ohne dabei Menschen zu verletzen, scheint mir Benedikt XVI. die lebendige Antwort zu sein: seine mutige Demut, seine sanfte Standfestigkeit. Das überzeugt nicht alle Geister, kann aber die Herzen bewegen.
Alain Bandelier

Aus Famille Chrétienne v. 22.-28.11

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