VISION 20006/2020
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Tennis gegen Gott

Artikel drucken Wenn Glaubensleben zum Leistungssport wird (Bernhard Meuser)


Ein wenig aus Sentimentalität haben meine Frau und ich uns zuletzt einen alten Film angeschaut. Wir lieben den südfranzösischen Wallfahrtsort Lourdes, lieben auch das grandiose Stück Literatur von Franz Werfel, der mit seinem Buch „Das Lied von Bernadette“ 1941 – also mitten im Zweiten Weltkrieg – einer kleinen, ungebildeten Müllerstochter aus dem Pyrenäenkaff Lourdes ein faszinierendes Denkmal setzte.

Obwohl Werfel Jude war, glaubte er seine Errettung vor den Nazischergen und seine Flucht nach Amerika einem Wunder zu verdanken – und einem Gelübde, das der Schriftsteller in höchster Not in Lourdes ablegte. 1943, also nur zwei Jahre nach Erscheinen des Weltbestsellers, sprang die Traumfabrik in Hollywood an und investierte zwei Millionen Dollar in die teuerste Filmproduktion seiner Zeit. Der Film besticht noch heute durch die Intensität der Darstellung. Trotzdem waren wir am Ende froh, dass wir nicht auch noch unsere erwachsenen Kinder eingeladen hatten, diesen Film mit uns anzuschauen.
Obwohl die Macher des Films ein ungewöhnliche Sensibilität für die mystische Dimension des Glaubens an den Tag legten und wir manchmal den Eindruck hatten, als begegneten wir noch einmal einer längst versunkenen Welt der Frömmigkeit, einer Welt voller Innigkeit und voll des „edlen, süßen Weines“ der Go­t­tesliebe (Johannes Tauler), schauten wir uns in die Augen – und ich sagte zu meiner Frau: „Genau genommen ist der Film nicht jugendfrei! Gut, dass wir ihn alleine angeschaut haben.“
Meine Frau verstand sofort. Als müsse das eine mit dem anderen bezahlt werden, wurden wir noch einmal mit einem Katholizismus konfrontiert, wie er abstoßender kaum gezeichnet werden kann: hart, gesetzlich, gnadenlos, selbstbezogen, unbarmherzig, dunkel, leidenssüchtig.
Mochte auch vieles dem dramaturgischen Kontrast zur demütigen, kleinen Bernadette geschuldet sein, so liegt man gewiss nicht falsch, wenn man die heutige Glaubens- und Gotteskrise als späte Abstoßungsreaktion einer ganzen Generation gegenüber einer pervertierten Christlichkeit im 19. Jahrhundert deutet, die sich tief in das kulturelle Gedächtnis eingegraben hat: „Die Väter aßen saure Trauben und den Söhnen werden die Zähne stumpf.“ (Ez 18,1)
Der Alpdruck, der Bernadette in Gestalt der bösen Nonne Marie-Thérèse Vauzous im Nacken saß, hat sich lange gehalten: Christsein als Last, als Anstrengung, als Hochleistungssport in Sachen Tugend. Im Film darf sich die Nonne bekehren, in Wirklichkeit widersetzte sie sich sogar noch nach Bernadettes Tod deren Verehrung als Heilige.
Vor kurzem habe ich mich in einem Aufsatz mit dem Gott wohlgefälligen  Leben befasst; ich tat es, um Entlastung zu schaffen von einem Christentum der drückenden Pflichterfüllung – als würde unser Christsein erst dann beginnen, wenn wir ein konstantes Gebetsleben, ein bestimmtes Maß an Leiden, ein gewisses Level der Tugend oder einen Grundbestand nachweisbarer Leistungen Gott vor Augen halten könnten. Als müsste Gott erst einmal sehen, ob Er Spaß an uns haben könnte, bevor Er uns Seiner Liebe würdigt.
Ich schrieb seinerzeit: „Wir müssen nämlich niemand gefallen. Nicht der Mama, nicht dem Papa, nicht der Gesellschaft, nicht der Mehrheit, nicht unserem schärfsten Kritiker – also vielleicht der eigenen Frau. Und auch die anderen müssen uns nicht gefallen. Sie dürfen sein, wie sie von innen heraus sind. Wäre es anders, wäre jede Ehe die Hölle, die Familie eine Besserungsanstalt und die Kirche ein Zucht-Haus.
Menschen, die ihre Identität aus dem Ansehen anderer beziehen, sind nicht bei sich selbst. Sie degenerieren zu Erfüllungsgehilfen fremder (oder eigener) Erwartungen. Es hat lange gedauert, bis ich verstand: Ja, - nicht einmal Gott müssen wir gefallen. Gott stellt keine Bedingungen für Seine Liebe. Gott liebt uns bedingungslos, grundlos, ohne jede Vorleistung. Seine Liebe hört auch dann nicht auf, wenn es mir einfallen sollte, mit der Kalaschnikow durch die Fußgängerzone zu marschieren. Das würde an Seiner maßlosen, notorischen, verrückten Liebe zu mir nicht das Geringste ändern.“
Ich bekannte, selbst ein Christ gewesen zu sein, der es dem Allmächtigen beweisen wollte: „Mein Leben mit Gott war ehrlich gesagt ein bisschen wie Tennisspielen gegen Rafael Nadal. Es machte keinen besonderen Spaß. Ich war immer der Verlierer, so viel ich auch trainierte.“
Darüber erregte sich nun ein römischer Kardinal, der mir in einem Leserbrief und mit vielen Schriftstellen nachwies, dass es sehr wohl essentiell für die christliche Existenz sei, das Wohlgefallen Gottes zu erlangen. Ich habe das nicht bestritten. Bloß – wie kommt man dahin?
Auch die französische Philosophin Simone Weil war Jüdin wie Werfel Jude war – und auch sie erkannte etwas Wesentliches: „Es gibt Menschen, die Gott näherzukommen versuchen, wie jemand, der aus dem Stand möglichst hoch zu springen versucht in der Hoffnung, dass er eines Tages, nachdem er jedes Mal ein wenig höher springt, endlich nicht mehr zurückfallen, sondern zum Himmel aufsteigen wird. Wir wissen, wie vergeblich das ist. Wir können auch nicht einen einzigen Schritt gegen den Himmel hinauf tun. Die Menschen, die mit beiden Beinen in den Himmel zu springen versuchen, sind von dieser Anstrengung ihrer Kräfte so in Anspruch genommen, dass sie ihren Blick gar nicht mehr zum Himmel richten. Dabei ist es aber allein der Blick, der in dieser Sache etwas bewirken kann. Wenn wir lange Zeit den Himmel betrachten, steigt Gott hernieder und hebt uns empor.“

Der Autor (* 1953) initiierte zusammen mit Christoph Kardinal Schönborn den YOUCAT und war sein Hauptautor. Er leitete über lange Jahre die YOUCAT Foundation und trat zuletzt durch das Buch Freie Liebe – Über neue Sexualmoral (Fontis Verlag 2020 siehe Besprechung S. 20) hervor.






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