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Nicht wirklich Muslime

Artikel drucken Die türkischen Aleviten und ihre christlichen Wurzeln (Von P. Josef Herget CM)

In unserem Land leben Christen und Muslime oftmals im Alltag nebeneinander: Sie wohnen Tür an Tür, sie arbeiten am selben Arbeitsplatz, ihre Kinder besuchen denselben Kindergarten oder dieselbe Schulklasse. Oftmals ein bloßes Nebeneinander statt ein Miteinander. Aber was wissen wir schon voneinander?

Ein Drittel aller Muslime aus der Türkei sind Aleviten. Wer sind diese Aleviten aber eigentlich: Muslime oder doch keine Muslime?

Die Bezeichnung “Alevi" bzw. “Alevit" leitet sich aus dem arabischen Alawi(yun) ab und bedeutet Ali-Anhänger. Ali Ibn Abu Talib war Vetter und Schwiegersohn, sowie Kampfgenosse Mohammeds. Kurz nach Mohammeds Tod (632 n. Chr.) geriet die islamische Welt in eine Krise. Es ging dabei um die politische Nachfolge, um das Kalifat und um die Auslegung der Lehre Mohammeds und des Koran.

Nach blutigen Auseinandersetzungen kam es zur Spaltung des Islam zunächst in zwei Hauptkonfessionen, in die Sunna und Schiia. Aus den Schiiten gingen dann die Aleviten in Syrien und später die Anatolischen Aleviten hervor. In einer Broschüre, die zur Kulturwoche der Anatolischen Aleviten in Berlin im Jahr 1991 herausgegeben wurde, heißt es: “Außer der Liebe zu Ali und den zwölf Imamen verbindet den Alevismus nichts mit den Schiiten im Iran, Irak und anderen arabischen Ländern."

Etwa ein Drittel der Türken, die in Österreich und Deutschland leben, sind Anatolische Aleviten. Im Bewußtsein ihrer religiösen und sozialen Besonderheiten, die ihnen jahrhundertelang Ausgrenzung, Verfolgung und Nichtanerkennung durch die islamische Umwelt einbrachte, haben sie ihre Identität bis vor wenigen Jahren verborgen. Erst in jüngster Zeit machen sie auf ihre Existenz als eigenständige Glaubensgemeinschaft aufmerksam. Von der türkischen Bevölkerung sind ein Drittel Aleviten, also mehr als 20 Millionen.

Bis ins 11. Jahrhundert gehörte Anatolien zum Herrschaftsgebiet des Byzantinischen Reiches und damit in den Einflußbereich des östlichen Christentums. Dann drangen Turkmenen, Seldschuken und andere Türkvölker aus Zentralasien nach Anatolien vor. Diese eindringenden Reitervölker waren während ihrer Wanderungen mit dem schiitischen Islam in Berührung gekommen. Etwa 25 bis 30 Prozent waren christlichen Glaubens und eine Gruppe waren Heiden. In diese Zeit der türkischen Einwanderung zwischen 1200 und 1350 geht die Entstehung des Alevitentums in Anatolien zurück.

Während der Machtkämpfe und Herrschaft der Mameluken, Seldschuken und Osmanen schloß sich die aristokratische Schicht unter den Turkmenen, die mit sunnitisch-arabischen Kaufleuten und Herrschern wirtschaftliche, politische und militärische Beziehungen pflegten, aufgrund ihrer Interessen dem sunnitischen Glauben an.

Dagegen suchten die unterdrückten Menschen Hilfe und Rettung gegen die sunnitische Kalifendynastie im Alevismus. Ein Teil der Anatolischen Aleviten hat christliche Vergangenheit. Aus Angst vor dem sunnitischen Islam traten sie dem Alevismus bei, der ihnen ermöglichte nach außenhin als Muslime in Erscheinung zu treten. Versteckt hofften sie so ihren christlichen Glauben und ihre Gebräuche leben und ihre Traditionen an spätere Generationen weitergeben zu können.

Besonders die Osmanen verfolgten die Aleviten heftig als Ungläubige und Abtrünnige wegen der Eigenständigkeit ihrer Glaubensansicht und Praxis. Diese Eigenständigkeit zeigt sich in der Ablehnung der “Fünf Säulen" des Islam und der Scharia, dem islamischen Rechtskodex.

Die Aleviten haben keine Moscheen, keine Pflichtgebiete, keine fünf Gebetszeiten, es gibt keinen Fastenmonat Ramadan, keine Pflichtwallfahrt nach Mekka, keine Geschlechtertrennung, kein Weinverbot... Anstelle einer systematischen Glaubenslehre stehen ethische Gebote, die sich durch universalen Charakter auszeichnen. Etwa die Aufforderung: “Tue Gutes und meide das Böse." Oder: “Eline, beline, dilin sahip ol! - Beherrsche deine Hand, deine sexuellen Gefühle und deine Zunge!" Dieser Satz ist eine Art Zusammenfassung der Zehn Gebote Gottes.

Die Aleviten aus der Provinz Tunceli (Dersim), Sivas (Sebaste), Maras, u.a.m., die sich “Kizilbas", zu Deutsch “Rotkopf" nennen, haben mit Sicherheit eine christliche Vergangenheit. Ihre Art zu beten, Feste zu feiern, ihr Brauchtum, sprechen davon, auch wenn sie selbst oftmals den Sinn ihres Tuns nicht mehr verstehen. Sie von den orthodoxen Muslimen zu unterscheiden, ist verhältnismäßig leicht, denn ihre Frauen sind nicht verschleiert, sondern modern gekleidet und bemüht, sich dem europäischen Lebensstil anzupassen. Sollten wir Christen nicht unsere Mitmenschen mit mehr Aufmerksamkeit und Liebe neu sehen lernen? Vielleicht entdecken wir in ihnen und sie in uns schon lange vermißte Geschwister?

Dennoch sollten keine voreiligen Schlüsse gezogen werden. Auch wenn bei Aleviten mit weit weniger Vorurteilen gegenüber dem Evangelium und der christlichen Botschaft zu rechnen ist als etwa bei Sunniten und Schiiten, wäre es doch ein Irrtum anzunehmen, der Schritt zum christlichen Glauben sei für Aleviten selbstverständlich und problemlos.

Durch den jahrhundertelangen Einfluß des Islam gibt es manche theologische Lehren und Vorstellungen, die eine Hinwendung zum Christentum erschweren. So fällt es Aleviten beispielsweise schwer, ihre Erlösungsbedürftigkeit zu erkennen und Jesus Christus als ihren Herrn und Retter.

Trotz aller Nähe, trotz der vielen Bräuche aus christlicher Zeit, die sich vor allem bei den Kizilbas erhalten haben (vielleicht gerade deswegen!), brauchen sie das christliche Glaubenszeugnis, die christliche Verkündigung, das Fürbittgebet.

Glaube ist Gnade, er ist nicht machbar, er ist und bleibt immer Geschenk. Doch wir dürfen vertrauen, daß der Heilige Geist Erleuchtung und Hinwendung ihrer Herzen zu Christus bewirken will. Beispiele dafür gibt es in unseren Tagen viele.

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